Nach zahlreichen Hungertoten ist die syrische Kleinstadt Madaya nahe der Grenze zum Libanon in der Öffentlichkeit. Schreckliche Bilder von verhungernden Menschen gingen um die Welt. Durch den internationalen öffentlichen Druck, den diese Bilder erzeugten, hat das Assad-Regime diesen Montag endlich Hilfsgüter in die Stadt gelassen. Bereits seit Juli letzten Jahres ist die Stadt mit rund 40.000 BewohnerInnen von Assad-Regime und Hisbollah-Miliz belagert.
Adopt a Revolution hat mit dem Aktivisten Abou Khalil Buqaini aus Madaya gesprochen. Er berichtet wie es zur Belagerung kam, warum Lebensmittellieferungen der UN eigentlich keine Lösung sind und welche Form von Solidarität er sich in der Belagerung wünscht.
Die UN hat in der letzten Woche angekündigt, dass die syrische Regierung es erlaubt, Nahrungsmittel nach Madaya zu lassen. Wie ist deine Einschätzung dazu?
In den letzten sechs Monaten wurden so viele Dinge angekündigt und sind dann doch nicht passiert. Ich glaube an nichts mehr, bis ich es mit meinen eigenen Augen sehe. Auch wir sehen jeden Tag Nachrichten, aber erst wenn die Lebensmittel die Checkpoints passiert haben, sind sie auch hier – die Ankündigungen ändern zunächst gar nichts.
Im letzten halben Jahr wurden zwei Mal Nahrungsmittel nach Madaya hineingelassen. Die erste Ladung enthielt medizinisches Material und Lebensmittelpakete mit Grundnahrungsmitteln wie Öl und Nudeln. Die zweite Lieferung enthielt Kekse, dessen Haltbarkeitsdatum schon längst abgelaufen war. Die Lebensmittelpakete waren überhaupt nicht ausreichend. Eine zehnköpfige Familie – und meine Familie besteht derzeit aus zwölf Personen – konnte davon gerade mal eine Woche leben.
Wie ist die humanitäre Situation in Madaya derzeit?
Man kann sagen, dass es außer auf dem Schwarzmarkt eigentlich keine Lebensmittel gibt. Ein Kilo Zucker oder Reis kosten ungefähr bis zu 300 $. Die Waren, die auf dem Schwarzmarkt verkauft werden, stammen zum größten Teil aus privaten Haushalten. Die Menschen haben ihre eigenen Vorräte monatelang zurückgehalten und bieten sie nun zu diesen enormen Preisen an. Dann gibt es noch Schmuggelware, die durch die Bestechung der Kämpfer an den Checkpoints nach Madaya hineinkommt. Dafür zahlen wir auch sehr viel Geld. Ich spreche hier von den Kämpfern, die uns eigentlich belagern!
Wir AktivistInnen, die humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen, bekommen Spenden und davon kaufen wir vom Schwarzmarkt und von den Soldaten an den Checkpoints Waren. Damit wiederum versuchen wir die Bevölkerung zu versorgen. Wir können ihnen kaum etwas anbieten: 10 kg für eine zehnköpfige Familie für eine Woche – was ist das schon? Wir schämen uns, den Menschen nicht mehr bieten zu können. Kinder können wir mit einem Kilogramm Milchpulver pro Woche versorgen. Das führt zu extremer Unterernährung. Generell gibt der Schwarzmarkt gerade nicht mehr viel her. Meistens bekommt man nur ein paar Kekse. Somit gelangt der Hauptteil der Nahrung über die korrupten Kämpfer an den Checkpoints in die Stadt.
Die Koordination von uns AktivistInnen untereinander funktioniert gut. Grundsätzlich ist es so, dass sich die humanitären Organisationen einer Stadt um ihre jeweiligen BewohnerInnen kümmern. Zum Beispiel führen die AktivistInnen aus Zabadani die Statistiken für die Binnenflüchtlinge, die aus Zabadani kommen, und verteilen das Essen an sie. Aber wenn es um Nahrungsmittel geht, teilen wir diese gerecht untereinander auf. Niemand wird bevorteilt, egal ob er nun zu den lokalen BewohnerInnen gehört oder zu den Binnenflüchtlingen. Bisher gibt es auch keine Spannungen zwischen den BewohnerInnen [Anm. d. Red.: Um die 20.000 Menschen wurden v.a. ab Juli 2015 von Milizen der Hisbollah und des Regimes kollektiv bestraft und von Zabadani nach Madaya vertrieben, da sie vom Regime als Oppositionelle wahrgenommen wurden]. Wir AktivistInnen teilen uns auch ein Büro zur Koordination der humanitären Hilfe. Transparenz ist in dieser Notsituation absolut wichtig.
Was esst ihr derzeit? Es gibt Bilder von Gerichten, die nur aus Baumblättern bestehen…
Ich kann dir versichern, dass wir alle tatsächlich Baumblätter essen derzeit. Teilweise haben wir auch schon Blumen und Zierrosen gegessen. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die Katzen geschlachtet haben. Wir essen auch Gras von den Wiesen. Da gerade ein starker Winter eingebrochen ist, ist auch das kaum noch möglich. Bei 40.000 Menschen reicht auch das Gras der Wiesen nicht. Das Krasse ist: Madaya besteht aus der Stadt selbst und den landwirtschaftlich nutzbaren Flächen um die Stadt herum. Wir sind damit abgeschnitten vom Sahel, den landwirtschaftlichen Flächen. Einige Menschen pflanzen privat das an, was im Winter wächst: Zwiebeln, Radieschen, Spinat. Aber das braucht Monate um zu wachsen. Wenn es einmal geerntet ist, dann muss man wieder fünf Monate warten, bis mehr nachwächst.
Wie ist es zur jetzigen Situation gekommen? Wie war die Lage vorher in Madaya? Und wie und warum hat es sich dann so zugespitzt?
Madaya ist schon seit ungefähr zwei Jahren leicht belagert. Das heißt, dass wir die Checkpoints im Gegensatz zur jetzigen Situation noch passieren und Nahrungsmittel mit einer entsprechenden Genehmigung vom Stadtviertelleiter in die Stadt hineinbringen konnten. Die Kontrollen an den Checkponts führten dazu, dass die Lebensmittel im Viertel nach und nach weniger wurden und die Preise stiegen. [Anm. d. Red: Das Regime konnte durch die Kontrollen genau überblicken, welche Mengen an Nahrungsmitteln sich noch im Viertel befinden. Sobald durch die Kontrollen und die entsprechenden Preissteigerungen genug Mangel an Nahrungsmitteln erzeugt worden ist, schlossen die Belagerer die Checkpoints um die Stadt].
Am 5. Juli 2015 begann dann der Beschuss auf unsere Stadt durch Bombardierungen und Scharfschützen. Ich erinnere mich genau an dieses Datum, weil ich an diesem Tag in den Bauch geschossen wurde. Anschließend begann die Vertreibung der BewohnerInnen Zabadanis nach Madaya und das benachbarte Dorf Buqain. Man muss sich vorstellen, dass die Milizen der Hisbollah und des Regimes einfach in die Häuser eindrangen und die Leute regelrecht heraustrieben. Es handelte sich also nicht um einen geregelten Umzug. Die Leute hatten fast keine Möglichkeit ihr Hab und Gut mitzunehmen.
Man muss verstehen, dass Zabadani in zwei Teile geteilt war: es gab den sicheren Teil, in dem es keine Kämpfer gab, sondern ausschließlich Zivilisten lebten. Wir nannten ihn Ober-Zabadani. In Ober-Zabadani befanden sich Tausende Binnenflüchtlinge aus den anderen Teilen der Stadt. Dann gab es noch Unter-Zabadani. Dort hielten sich sowohl Zivilisten als auch lokale bewaffnete Kämpfer auf. Dieser Teil war lange Zeit von Scharfschützen umzingelt und wurde ständig bombardiert. Die Vertreibung fand aus dem sicheren Teil Zabadanis statt, in dem sich nachweislich nur Zivilisten befanden.
In Madaya lebten vor der Vertreibung ca. 16.000 Menschen. Zusammen mit den BewohnerInnen Zabadanis sind es nun über 40.000. Diese sind auf Madaya und Buqain verteilt, wobei die Mehrheit in Madaya lebt. Es handelt sich hier definitiv um Vertreibung. Vorher kamen alle zwei Wochen ein paar Flüchtlinge nach Madaya, aber nicht Tausende!
Ihr seid Tausende von Menschen. Wieso könnt ihr die Belagerung nicht einfach durch einen zivilen Protest durchbrechen, etwa indem ihr auf die Checkpoints zulauft?
Wir befinden uns hier in einer bergigen Region. Es war taktisch geschickt, uns auf eine kleine urbane Fläche wie Madaya und Buqain zusammenzupferchen. Außerdem befinden wir uns noch an der Grenze zum Libanon. Es ist wirklich leicht, uns zu umzingeln. Es gibt vielleicht zwölf bis 15 Ortsausgänge. An jedem davon befindet sich ein Checkpoint mit schwerbewaffneten Kämpfern der Hisbollah, des Regime oder der Volkskomitees [Anm. d. Red.: die sog. Volkskomitees sind paramilitärische Strukturen, die das Regime 2011 geschaffen hat].
Dann gibt es noch Gebiete, die nicht mithilfe von Checkpoints kontrolliert werden können. Diese Gebiete wurden einfach vermint. Die Minen werden immer näher an die Stadt heran gelegt. Die Belagerer nutzen jede Chance, den Zirkel der Belagerung enger zu ziehen. Eltern müssen aufpassen, wo ihre Kinder spielen, weil der Stadtrand komplett vermint ist. Es gab bereits Fälle, in denen die Kinder beim Spielen auf die Minen getreten sind.
Ich versuche mich jeden Tag zu überzeugen, positiv zu bleiben. Ich will, dass die Welt versteht, dass wir Menschen sind.
Wie ist die gesellschaftliche Stimmung?
Es gibt bisher keine Ausschreitungen, aber eins wird sehr deutlich: mit der Gastfreundschaft ist es vorbei. Wenn ich jemanden besuche, dann wird einem nichts mehr angeboten. Nicht einmal Tee, denn den gibt es nicht mehr. Wenn ich vom Schwarzmarkt etwa 250g Zucker kaufe, dann tue ich gut daran ihn zu verstecken. Ich habe auch Angst, dass ich geschlagen und mir der Zucker abgenommen wird. Vor einigen Wochen kam ein Mann mit einer Pistole in unser Haus. Es war Zivilist, wie ich. Er hatte sich eine Waffe besorgt. Er durchsuchte unser Haus, fand einfach nichts und ging wieder. Es scheint als seien wir bei dem Grundsatz angekommen, dass sich der Stärkere durchsetzt.
Vor einigen Wochen gab es einen Austausch von Verletzten und Kranken aus eurer Gegend mit denen aus Fua und Kufraya. Wie weit ist dieser Austausch vorangekommen?
Dieser Plan wurde nie komplett umgesetzt. Es durften Verletze aus Zabadani gehen, aber nicht aus Madaya und Buqain. Ich selber bin verletzt und brauche dringend medizinische Behandlung.
Generell gibt der Austausch von Verletzten etwas Hoffnung. Ich bin verletzt. Im Juli letzten Jahres wurde ich in den Bauch geschossen. Es gibt einfach keine Ärzte mehr hier. Im Juli hat der letzte Chirurg, bevor es die Stadt verlassen hat, bei mir eine Notoperation durchgeführt. Ich wurde am Magen getroffen. Seitdem wurde ich eigentlich nur durch Flüssignahrung durch den Tropf ernährt. Somit habe ich die Situation von Belagerung und Hunger viel eher als alle anderen erlebt. Meine Situation ist sehr kritisch und um meine moralischen Werte ist es derzeit nicht sonderlich gut bestellt.
Es ist ganz wichtig zu verstehen: In Madaya gibt es keine bewaffnete Opposition. Das weiß das Regime ganz genau. Es gibt also nichts auf der Welt, was unsere Belagerung rechtfertigen würde.
Aus ganz Syrien gibt es Solidaritätsbekundungen. Gibt euch das Stärke?
Ich habe ganz deutlich das Gefühl, dass nicht nur Syrien, sondern die ganze Welt mit uns solidarisch ist. Ich sehe die Bilder täglich. Aber es nützt nichts, wenn die Leute lediglich Transparente hochhalten. Sie müssen Druck auf ihre Regierungen ausüben und sie auffordern, die Belagerung durch politischen Druck auf das Regime zu beenden. Solidarität ist wichtig. Sie muss aber am Ende zur Beendigung der Belagerung führen, damit sich für uns überhaupt etwas ändert. Auf politischer Ebene ist für mich eines deutlicher denn je: so etwas wie universale Menschenrechte existieren nicht. So etwas wie die UN ist nur ein Konstrukt. Ändern tut sie gar nichts. Wir sind alleine. Wir verhungern an diesem Flecken Erde.
Es geht nicht darum, dass hier durch die UN Nahrungsmittel hineingebracht werden. Die Belagerung muss jetzt sofort beendet werden. Wer sich draußen durch ein paar Lebensmittellieferungen zum Schweigen bringen lässt und glaubt, dass damit unser Problem gelöst sei, liegt falsch. Dies führt lediglich zu einem Teufelskreis: die Nahrungsmittel verhindern unser vorläufiges Verhungern. Dann kommen wieder keine Nahrungsmittel bis es erneut Hungertote und einen Medienrummel darum gibt – und erneut Nahrungsmittel in die belagerten Gebiete gebracht werden. Dass wir belagert sind und nichts selber bestimmen können, daran ändern die Lieferungen von Nahrungsmitteln nichts. Die Belagerung muss jetzt sofort aufgehoben werden! Kann man die Welt denn etwa nur mit einem Schock durch Bilder von Verhungerten bewegen?
Und die Revolution? Die friedliche Bewegung, die das Land verändern wollte?
Ich habe manchmal Angst, dass ich mich selber dem Regime übergebe, so schlecht ist mein psychischer Zustand. Natürlich sind wir zivile AktivistInnen und immer noch funktioniert die Zusammenarbeit mit so vielen verschiedenen Organisationen gut. Wir organisieren uns selber – das ist sicher eine Errungenschaft. Aber bei all dem habe ich irgendwie begriffen, dass das, was passiert, so viel größer ist als wir. Egal, was wir vor Ort bewegen. Am Ende wird immer über unsere Köpfe hinweg entschieden. Wir arbeiten hier in unserer eigenen kleinen Gesellschaft. Wir helfen Leuten, aber wir haben gar keine Kontrolle darüber, was unsere Zukunft betrifft.
Es war also keine freiwillige Entscheidung in Madaya zu bleiben, um Widerstand zu leisten?
Ja, genau. Das Regime praktiziert eine Politik der Zermürbung. Wir werden ausgehungert und nun macht es uns folgendes Angebot: wenn wir raus wollen, dann brauchen wir uns nur selber dem Regime zu übergeben. Wir müssen uns bei den sogenannten Volkskomitees, die das Regime gebildet hat, registrieren. Dann werden wir verhört. Anschließend bekommen wir Militärtraining und wird Teil der Belagerung des Regimes. Im Gegenzug dürfen wir die Gebiete mit unseren Familien verlassen. In Buqain haben das schon 30 Personen gemacht, dabei sind wir dort nur 5.000 Einwohner. In Madaya liegt die Zahl sicher weitaus höher. Wir entkommen der Belagerung also nie: wir sind Teil von ihr, drinnen wie draußen.
Trotz der Belagerung arbeitet unser Projektpartner in Madaya daran, humanitäre Hilfe zu organisieren und Frauenrechte zu stärken. Die AktivistInnen bieten unter anderem Computerkurse an, damit Frauen befähigt werden, ihren Alltag in der Belagerung zu dokumentieren. Helfen Sie mit Ihrer Spende, humanitäre und zivilgesellschaftliche Arbeit in Madaya zu stärken!
Das Interview führte Ansar von Adopt a Revolution.