Safe

Die syrische Aktivistin Marcelle Shehwaro hat das russische Bombardement von Aleppo überlebt. Jetzt sieht sie, was in der Ukraine passiert – doch sie kann und will nicht nur besserwisserisch wirken.

Ich wusste nicht, ob ich über die Ukraine schreiben kann, als Syrerin, die die Fassbombenangriffe auf meine Heimatstadt Aleppo überlebt hat. Ich weiß nicht, wie ich über die Russische Invasion der Ukraine schreiben kann, als Frau, deren Stadt als Folge der Russischen Intervention in Syrien zerstört und belagert und deren Bewohner*innen ins Exil getrieben wurden. Ich weiß nicht, ob ich etwas zu sagen habe, außer, der Welt ins Gesicht zu schreien: „Wir haben es euch gesagt“.

Ich tagträume oft, wie die Welt aussehen würde, wenn wir eine andere politische Reaktion auf die Syrische Revolution erlebt hätten. Vielleicht nicht einmal im ersten Jahr, in dem der mukhabarat (arab. Geheimdienst) täglich auf unsere Proteste schoss. Aber vielleicht, als die Panzer des Regimes begannen, die Städte zu beschießen, und die Luftangriffe alles Leben terrorisierten. Ich erträume besonders, wie vielleicht die Situation in meinem Land, der Region und der Welt hätte sein können, wenn die Welt nicht in 2013 ein Abkommen unterzeichnet hätte, das Russland grünes Licht gab, alle „roten Linien“ zu überschreiten, selbst den Einsatz von Chemiewaffen.

Wie viele Proteste des Arabischen Frühlings wurden durch unsere Niederlage gezähmt? Wie stünde es heute um die Redefreiheit in der Türkei? Wenn wir nicht bloß eine „Flüchtlingskrise“ genannt worden wären? Wenn es Russland nicht gewagt hätte, öffentlich zu erklären, dass sie uns benutzten, um Waffen zu testen; wenn sie sich nicht so sicher gefühlt hätten hinter ihrer Vetomacht und ihren Luftangriffen. Aber all das führt uns nun dazu, der Welt ins Gesicht zu schreien: „WIR HABEN ES EUCH GESAGT“.

Ich bin erstaunt, dass ich nicht schockierter bin. Für alle auf der internationalen Bühne wirkt all dies wie ein riesiges déja vu.

Die „internationale Gemeinschaft“

Marcelle Shehwaro überlebte als syrische Aktivistin die russischen Luftangriffe auf Aleppo

Offizielle Stellen erklären der Welt, dass „die Internationale Gemeinschaft“ sich nun um die Ukraine kümmern soll. Als wären nicht sie es, die für die Rückgratlosigkeit dieser Kreatur, die sie „Internationale Gemeinschaft“ nennen, verantwortlich sind. Guterres bricht fast in Tränen aus, als er die bearbeitete Version einer Rede verliest, die sie wahrscheinlich ursprünglich über Syrien geschrieben hatten – ohne jede Anerkennung der Rolle, die die UN darin gespielt hat, Russland wieder zu der imperialistischen Macht zu machen, die es heute ist. Ich lache über Joe Bidens Gebete – er tut so, als seien die Vereinigten Staaten kein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates. Ein Luftangriff dauert bloß Minuten, die Ukrainer*innen haben nicht den Luxus, auf die Wirkung der Sanktionen zu warten. Aber wenn schon ich nicht mehr von der „Internationalen Gemeinschaft“ erwartet habe, dann hat es auch Putin nicht.

Dann habe ich geweint. Habe mir Fotos des Leids in der Ukraine angesehen. Es ist ein Segen und ein Fluch, einen Krieg überlebt zu haben, so scheue ich nicht vor dem Grauen zurück. Ich stelle nicht den Fernseher aus, um mich meiner self-care Routine zuzuwenden. Ich schaue mir die Gesichter an. Die Gesichter, die es verdient hätten, in sicheren Häusern zu leben, nicht hastig fliehen und ihren Kindern erklären zu müssen, was Krieg ist. Die Gesichter, mit Blut bedeckt und in weiße Bandagen gehüllt, die Verzweiflung hinter den Busfensterscheiben, auf dem Weg hinaus aus Kiev. Ich stocke beim Betrachten ihres Gepäcks: Nur das Nötigste. Ich lese, was Exil-Ukrainer*innen schreiben, wie sie um Hilfe werben, nicht von den Nachrichten wegkommen und die Welt auffordern, ihre Landsleute zu retten. Ich weine. Schließlich wünsche ich mir, wir hätten Unrecht gehabt und dass unsere Prophezeiungen über Russland sich nicht bewahrheitet hätten.

Es ist ein Segen und ein Fluch, einen Krieg überlebt zu haben, so scheue ich nicht vor dem Grauen zurück.

Ich suche nach der nächsten Demonstration. Um mich den Rufen anzuschließen. Ich teile den Protestaufruf mit den anderen gewaltsam vertriebenen Syrer*innen, die sämtlich ihren Profilen in sozialen Medien die ukrainische Flagge hinzugefügt haben. Darf ich der Welt zurufen: „Wir haben es euch gesagt“, darf ich rufen: „Das hier hätte verhindert werden können“? Und noch mehr Blutvergießen kann immer noch verhindert werden.

Darf ich rufen: Das hätte verhindert werden können?

Aber jetzt gibt es noch mehr, das ich fordern kann, für alle, die sich den Luftangriffen gegenübersehen: Verlangt eine Flugverbotszone über der Ukraine, wartet nicht, bis Putin auch dort die Krankenhäuser bombardiert. Wir Syrer*innen wissen, dass er das tun wird. Wartet nicht, bis Russische Attacken auch dort die Schulen ins Visier nehmen und der Welt die Bilder präsentiert werden von entstellten und getöteten Kindern.

Wenn ihr trotz alldem keine Flugverbotszone fordern könnt, dann werft es wenigstens nicht den ukrainischen Aktivist*innen vor, wenn sie es tun. Haltet ihnen keine Vorträge über euer begrenztes Verständnis von Gegen-den-Krieg und von Intervention. Gegen Krieg zu sein hat schon immer bedeutet, eine politische Haltung der Liebe für alle Menschen einzunehmen, und für das Recht zu leben.

Ich, als Überlebende, als Menschenrechtsaktivistin, als Feministin, als Syrerin und als Weltbürgerin – ich fordere eine Flugverbotszone für die Ukraine.

Was wir gelernt haben

Außerdem sollten wir bei jedem Protest, jeder Diskussion, an den Universitäten und in den think tanks die Debatte darüber eröffnen, dass die UN dringend umgeformt werden muss, um ihrer erklärten Mission, Frieden und Sicherheit zu wahren, weiter gerecht zu werden. Wir müssen weiter darauf drängen, das Vetorecht abzuschaffen, wenn es um massive Menschenrechtsverletzungen geht, von Palästina über Syrien bis zur Ukraine.

Den Ukrainer*innen, die ums Überleben kämpfen, haben wir hoffentlich mehr anzubieten: Kontaktiert uns! Wir haben gelernt, große Netzwerke der Zivilverteidigung aus Freiwilligen aufzubauen, um Menschen aus den Trümmern zu retten. Wir haben gelernt, crowdfunding zu nutzen, um denen, die fliehen mussten und jeden Winter zu erfrieren drohten, zu helfen. Wir haben gelernt, wie man Schulen und Krankenhäuser im Untergrund weiter betreibt.

In unserem Exil lernen wir immer noch, wie man in einer Welt leben soll, die den Krieg nicht aufhält.

In unserem Exil lernen wir immer noch, wie man in einer Welt leben soll, die den Krieg nicht aufhält. Wie man damit umgeht, aus dem Land, das man liebt, vertrieben zu sein, und wie wir uns erlauben zu trauern. Oh, wie ich hoffe, dass ihr nicht dasselbe durchmachen müsst.

Als ich in Aleppo war, habe ich die Nachrichten gehasst, die die Menschen uns sendeten, gut gemeint und mit aller Solidarität: „Please stay safe.“ Ich wusste nicht wie, im Angesicht der unablässigen Luftangriffe. Vielleicht sage ich stattdessen also einfach: „You deserve to be safe.“


Die Akivistin Marcelle Shehwaro hatte sich in ihrer Heimatstadt Aleppo gegen den Einfluss von Dschihadisten eingesetzt und für das Recht auf Schulbildung – bis sie die Stadt verlassen musste. Für die Adopt-a-Revolution-Zeitung hat sie darüber geschrieben, wie der „IS“ Syrien schwarz färbte.

Dieser Text ist im englischen Original hier erschienen. Übersetzung Alexander Friedrich. Das Bild stammt von Muhammad Najdat Haj Kadour. Es zeigt, ein Wandkunstwerk des Graffiti-Künstlers Aziz Al-Asmarauf auf den Resten eines Hauses, das bei einem Russischen Luftangriff zerstört wurde, um seine Solidarität mit den Menschen in der Ukraine aufzudrücken.