Bis vorgestern war das noch möglich: Bei einem Jugendforum unserer Partner*innen sind Jugendliche aus ganz Syrien zusammengekommen, um gesellschaftlich relevante Fragen und ihre Rolle als Jugend zu diskutieren. Heute dokumentieren wir ihre Stimmen zur Lage vor Ort.

Stimmen aus Nordost-Syrien

Viele unserer Partner*innen sind in Nordost-Syrien angesiedelt und erleben hautnah die Militär-Offensive der Türkei. Wir dokumentieren hier ihre Stimmen:

Bis vorgestern war das noch möglich: Bei einem Jugendforum unserer Partner*innen sind Jugendliche aus ganz Syrien zusammengekommen, um gesellschaftlich relevante Fragen und ihre Rolle als Jugend zu diskutieren. Heute dokumentieren wir ihre Stimmen zur Lage vor Ort.

Unser Partner Ahmad von der PEL-Nothilfe aus Hassaka:

(5. November) “In den letzten drei Tagen gab es eine weitere Fluchtbewegung aus Tell Tamer/Girê Xurma nach Hassaka. 69 Schulen in Hassaka-Stadt sind derzeit zu Notlagern umfunktioniert.

Die Lage in den Schulen ist nicht so gut, weil wir immer noch auf die lokalen Kapazitäten und Spenden angewiesen sind – und die sind begrenzt!

Leider sind keine Schulen in den Vierteln, die unter Kontrolle des Regimes standen, zu Aufnahmelagern umfunktioniert worden. Leider haben wir da auch keine Handhabe. Diese 69 umfunktionierten Schulen gehörten allesamt zur Autonomen Selbstverwaltung. Wir brauchen so oder so aber unbedingt eine alternative Lösung für die Binnenflüchtlinge (IDP). Seit der türkischen Offensive und den Fluchtbewegungen in die Stadt Hassaka musste der Unterricht komplett gestoppt werden. Die Kinder müssen dringend wieder zur Schule! Deshalb stellen wir nun Zelte für ein Camp auf.

Aber die Situation ist jetzt schon etwas besser als am Anfang: Familien, die hierher geflohen sind aus Amouda, Darbasiye, Qamischli sind wieder zurückgegangen. Dafür sind aber etliche neue Familien aus anderen Städten gekommen.”


Stimmen zum türkisch-russischen Deal:

Delal* aus Kobane

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Was passiert gerade in Nordost-Syrien? Die aktuellen Entwicklungen im Liveticker.

“In Kobane sind heute Morgen russische Panzer in die Stadt gekommen. Jetzt ist das Regime nur noch 15 Meter von mir entfernt. Jeden Morgen laufe ich nun an denen vorbei. Das ist sehr seltsam. Derzeit ist noch nichts passiert, aber wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Erst haben die Amerikaner behauptet, dass Kobani eine Rote Linie darstelle, gestern meinten die Russen genau das Gleiche.”

Heval* aus dem Umland von Qamischli

*
Aus Sicherheitsgründen und zum Schutz der Personen haben wir ihre Namen geändert.

“Die Situation hier ist gerade ganz ok. Aber ich glaube, dass das nur eine Vereinbarung war, die den Weg für viele weitere Vereinbarungen ebnet. Wir können also allgemein sagen, dass die Situation sehr schlecht ist. Etwas Schlimmeres, als dass sich die Türkei und das Regime nun die Kontrolle teilen, gibt es nicht.

Wir wissen nicht mal, ob die Institutionen der Selbstverwaltung bestehen bleiben. Es wird wohl nun alles nach russischem Muster gehen: Eine Show-Regierung nach russischen Vorstellungen. Syrien im russischen Gewand.

In den letzten Tagen habe ich hier viel die IDPs unterstützt. Ich habe jetzt echt Angst, was passiert. Aber wenn ich die IDPs sehe, bekomme ich das Heulen – will ich echt einer von ihnen werden? Soll ich da nicht lieber auf meinem Grund und Boden sterben?”

Mansur*

“Wir haben viel Hoffnung in die Revolution gesetzt. Das Absurdeste ist doch nun wirklich, dass diese Türkei-gestützte FSA (Freie Syrische Armee), die glauben, die Revolution zu verteidigen, genau jene Kräfte sind, die nun dafür gesorgt haben, dass das Regime zurück in den Norden Syriens kommt.”


Unser Partner Ahmad von PEL über die Situation in Hassaka und der Binnenflüchtlinge

(23. Oktober) “Nach dem Rückzug der SDF aus Sere Kaniye/Ras Al-Ain ist die Situation noch schlimmer geworden. Vor zwei Tagen sind die letzten Zivilist*innen aus Sere Kaniye in Hassaka-Stadt eingetroffen. Gestern ist die Türkei und die TFSA in die umliegenden Dörfer eingedrungen. Deren Bewohner*innen sind dann auch hierher geflohen. Selbst Bewohner*innen aus den Dörfern, die außerhalb der vereinbarten Sicherheitszone liegen, sind geflohen. Diese Leute haben auch total viel Angst und sind deswegen lieber geflohen.

Die Menschen in den anderen Gebiete wie Darbasiye, Amouda und Qamischli haben ebenso Angst:

Gestern haben die Leute gesehen, wie dort die Zementmauer von der Türkei entfernt wurde. Also glauben die Leute in diesen drei Städten, dass die Türkei auch in diese Gebiete kommen wird.

Die letzten Tage haben ein bisschen Erleichterung mit sich gebracht aufgrund der Waffenruhe. Aber, wenn nun die Mauer entfernt wird, dann wird sich die Türkei wohl nicht an das Abgemachte halten. Es gibt neue Kämpfe, beispielsweise um Ain Aissa, zwischen der SDF und den türkischen Kräften.

Die Stadt Hassaka kann nicht alle Binnenflüchtlinge aus allen Gegenden aufnehmen. Das sind einfach zu viele, die hierher strömen. Alle Schulen sind nun befüllt und überfüllt. In einem Schulzimmer sind mehr als sieben Familien untergebracht. Die INGOs sind wie gesagt weg. Es sind also nur die lokalen Akteur*innen, die mit wenigen Mitteln ihr Bestes tun. Es gibt echt schlimme Szenen, die sich hier abspielen. Leute, die einfach auf dem nackten Boden schlafen, weil wir einfach nicht genug Matratzen haben.

Wegen der großen Anzahl an Menschen in einem Zimmer kommt es auch zu Fällen von sexueller Belästigung und anderen Problemen zwischen den Familien selber. Außerdem findet derzeit gar kein Schulunterricht mehr für die Kinder statt, weil die Schulen ja mit IDPs gefüllt sind.

Ein anderes Thema ist der nahende Winter: In zwei Wochen werden die Temperaturen beginnen zu sinken. Es wird kalt werden, es wird regnen. Dafür sind die Schulen nicht vorbereitet. Es fehlt teilweise an Fenstern. Viele der Leute sind nur in der Kleidung, die sie an ihrem Körper trugen, geflohen und haben sonst nichts.

Selbst, wenn es nun zu einem Waffenstillstand kommt, dann können erstens nur einige zurück und zweitens auch nicht sofort. Es wird einen Teil der Menschen geben, insbesondere aus Sere Kaniye/Ras Al-Ain, die wohl überhaupt nicht mehr zurückgehen können.

Diese Menschen müssen versorgt werden. Sollen die ganze Zeit in den Schulen bleiben? Das ist unpassend und die Kinder müssen wieder in die Schule gehen. Wir müssen also schnell ein Flüchtlingslagern aufbauen, um die fliehenden Menschen aufzunehmen.

Die derzeitige Situation gibt uns auch nicht besonders viel Hoffnung.“


Aziz* aus der grenznahen Stadt Derik

(15. Oktober) “Wir wissen nicht genau, wann nun der Grenzübergang zum Irak dem Regime übergeben wird. Ich werde vom Regime gesucht und ich weiß, dass es dann für mich hier keinen sicheren Ort mehr gibt. Ich glaube nicht an Versprechen oder Garantien, dass uns nichts passiert. Wir haben in Daraa gesehen, dass dort Menschen nach dem Deal mit dem Regime und trotz russischer Garantien verschwunden sind und gefoltert wurden. Dieses Regime hat einen totalitären Charakter: Es nimmt entweder alles oder nichts.”


Evin* aus Qamischli

(14. Oktober) “Hier in Qamischli ist die Lage nicht so krass wie in anderen Gegenden. Uns haben zwar Raketen getroffen, aber es gab hier bisher nicht so große Fluchtbewegungen wie beispielsweise in Sere Kaniye/Ras Al-Ain. Dort haben nahezu alle Bewohner*innen die Stadt verlassen. Hier sind eher die Bewohner*innen der Randbezirke von Qamischli, die direkt an die türkische Grenze angrenzen, mehr in die Innenstadt gezogen und dort teilweise bei Verwandten untergekommen. Wir waren die gesamte Zeit in Alarmbereitschaft und hatten alles vorbereitet, aber zum Glück, wurde das bisher nicht gebraucht.

Gestern Abend dann zwischen 19 und 22 Uhr brach das Internet ab. Als die Verbindung wieder stand, wurde die Meldung verbreitet, dass es ein Abkommen zwischen dem Regime und der Autonomen Verwaltung geben würde. Auf einmal hörte ich Freudenschüssen und auch Autogehupe aus dem Sicherheitsviertel – das sind die Bezirke, die das Regime hier in Qamischli kontrolliert. Ich habe mich auch gewundert, dass einige Leute, von denen ich das nie erwartet hätte, auf einmal – beispielsweise auf WhatsApp – ihr Profilbild in die Flagge des Regimes umwandelten. Das ist total opportunistisch.

Wenn das Regime zurückkommt, wird es Checkpoints geben, Leute, die gesucht werden, werden verhaftet oder müssen sich verstecken. Vielleicht kann ich mich dann nicht mal mehr innerhalb der Stadt frei bewegen, oder man wird nicht mal mehr nach Hassaka fahren können.

85 Prozent der Menschen, mit denen ich spreche, meinen, dass sie nicht darüber nachdenken wollen, was nun passiert. Das Regime ist eine Diktatur, soll die wiederkommen?

Das Regime wird nun schlimmer sein als vor 2011. Insbesondere für uns: Vor 2011 hatten wir uns irgendwie an die Unterdrückung gewöhnt, aber mit der Autonomen Verwaltung hatten wir ein gewisses Maß an Freiheit.

Was soll mit den Schüler*innen passieren, die auf kurdisch unterrichtet wurden? Wir haben so viele Menschen erreicht mit unserer Arbeit, so viele Jugendliche auf deren Denken wir wirken konnten. Das soll vorbei sein? Die Arbeit in der Zivilgesellschaft ist zu meinem Zuhause geworden. Als ich heute unser Center verlassen habe, hat sich das schrecklich angefühlt.

Derzeit hat sich hier aber noch nichts verändert: Die Asayesh (Polizei) sind auf ihren Positionen und auch das syrische Miltiär befindet sich lediglich in dem Sicherheitsviertel. Es gibt allerdings viele Gerüchte darüber, dass die Autonome Verwaltung ihre Arbeit nun schon eingestellt hätte. Das stimmt so nicht und es wurde heute auch eine Erklärung abgegeben, dass die Zusammenarbeit nur militärisch sei.

Aus meiner Sicht hätten wir sowohl gegen Erdogan und seine Schergen als auch gegen das Regime kämpfen müssen.

Auf den Regimekanälen wird immer noch von “terroristischen Milizen der SDF” gesprochen – wenn sie uns nur so sehen, wie soll das denn dann werden, wenn die hier reinkommen?

Hier in meiner Straße gibt es mehrere Zelte, in denen um die Gefallenen der letzten Tage getrauert wird. Und als Preis soll jetzt das Regime wieder kommen? Wir fühlen uns, als würde man mit uns spielen. Derzeit leben wir im Zustand von Eventualitäten, wir wissen einfach nicht, was passieren wird, müssen aber auf alles gefasst sein.”


Aran*

“Wenn die Region hier an das Regime übergeben wird, dann könnt ihr euch schon mal darauf vorbereiten, dass wir auch zu euch kommen werden.

Ich war vier Monate beim Regime für meine politischen Aktivitäten inhaftiert und bin nur durch Bestechungen frei gekommen. Offiziell stehe ich noch auf den Fahndungslisten des Regimes – die Anklagen gegen mich wurden nicht aufgehoben. Wenn das Regime hier rein kommt, muss ich raus.” (14. Oktober)


Jian* aus Hassaka

(14. Oktober) “Die Flucht nach Hassaka geht weiter. Täglich kommen hier noch hunderte Familien aus der Grenzregion her, auch heute. 18 Schulen sind voller Geflüchteter und die 19. Schule bereiten wir gerade vor. In jedem privaten Haus wurden auch 2-3 Familien aufgenommen. Das ist eine große Last und wir können sie nicht unterstützen, weil wir uns auf die Menschen in den Schulen konzentrieren. Wir versorgen derzeit drei dieser Schulen mit Essen. Internationale Organisationen haben bisher nichts unternommen, alle Last liegt auf den lokalen Organisationen.

Wir machen das alles durch unsere eigenen Gelder – also das Geld der Mitglieder –, lange geht das nicht mehr. Vielleicht schaffen wir morgen noch, aber spätestens übermorgen brauchen wir Unterstützung, ansonsten gerät die Situation außer Kontrolle.

Nach der Vereinbarung mit dem Regime gestern haben einige der jungen Leute hier nun ganz schön Angst und wir noch größere Angst, ob und was das Regime unternehmen wird gegen die zivile Arbeit der lokalen Zivilgesellschaft.

Nun wissen wir seit heute früh, dass wohl die lokale Verwaltung erstmal unter Kontrolle der Autonomen Verwaltung bleiben wird, das ist erleichternd. Aber dennoch gibt es eine Fluchtwelle in Richtung Samalka (Kurdistan/Irak) von zivilen und Medienaktivist*innen. Auch die INGOs ziehen sich gerade dorthin zurück. Das ist die Reaktion auf die Angst, dass das Regime hier reinkommt.

Die Leute hier brauchen total viel, was wir teilweise und teilweise nicht zur Verfügung stellen können. Die lokalen Organisationen beziehen alles für die Versorgung der Binnenflüchtlinge direkt aus der Stadt. Das heißt, dass die lokalen Preise steigen und das wiederum stellt eine Last für die lokale Bevölkerung dar.”


Viyan* aus Hassaka

(14. Oktober) “Es ist bislang unklar, was jetzt genau passieren wird nach dem gestrigen Abkommen zwischen der SDF und dem Regime. Zwar stützen sich viele Menschen hier auf die Hoffnung, dass die Selbstverwaltung als Administration erhalten bleibt, aber wenn das Abkommen wirklich in Kraft tritt, wird das Regime auf lange Sicht seine Kontrolle über die Region auf allen Ebenen wiederherstellen und sich auch die staatlichen Institutionen direkt oder indirekt wieder einverleiben.

Derweil ist die Situation der Geflohenen in Hassaka und Tell Tamer/Girê Xurma nicht gut.

Es fehlt an Wasser, Nahrung und Unterkünften.

Fast alle internationalen Organisationen haben hier vor Ort ihre Arbeit eingestellt, ihre Mitarbeiter haben Syrien in Richtung Kurdistan (Irak) verlassen. Jetzt arbeiten hier nur noch die lokalen Organisationen, um den Geflohenen bei der Grundversorgung zu helfen. Alle konzentrieren sich auf den humanitären Bereich – in allen anderen bereichen haben lokale zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Aktivitäten momentan angehalten. Es ist unklar, was mit ihnen bzw. uns passieren wird, wenn es tatsächlich eine Übereinkunft zwischen dem Regime und der Selbstverwaltung geben wird.

Wenn das Assad-Regime tatsächlich wieder die Region übernimmt, werden einige von uns (zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen) gehen müssen – wir sind dann nicht mehr sicher.


Behzad* aus Hassaka

(14. Oktober) “Also die Abmachung mit dem Regime heißt jetzt erstmal, dass das Regime nach Tell Tamer/Girê Xurma und Sere Kaniye/Ras Al-Ain gehen wird. Ich bin aus Sere Kaniye/Ras Al-Ain, aber derzeit in der Stadt Hassaka, wo wir seit Tagen die Binnenflüchtlinge unterstützen.

Hassaka ist seit Jahren unter geteilter Kontrolle: Das Regime ist in einem Viertel, dem sogenannten “Sicherheitsviertel” (muraba´ amni), präsent. Der Rest der Stadt gehört zur YPG. Daran hat sich auch nach der Abmachung nichts geändert. Ich bin gerade 200 Meter von dem Sicherheitsviertel entfernt und das Regime hat sich da keinen Meter bewegt.

Solange wir nicht wissen, was die Garantien für uns sind, werde ich mich nicht ins sog. Sicherheitsviertel bewegen. Ich selber bin Oppositioneller zum Regime und brauche Garantien.

Die Abmachung scheint sich erst mal nur auf die Grenzregion zu beziehen. Ich und auch viele Binnenflüchtlinge werden nicht in meine Stadt (Sere Kaniye/Ras Al-Ain) zurückgehen, wenn wir keine 100%-Garantien bekommen. Dennoch glauben viele, dass das wesentlich besser ist, als dass die islamistischen Söldnergruppen hierher kommen und die Menschen umbringen.

Wir haben Kontakte in die Region um Al-Bab, unsere Freund*innen dort erzählen uns, wie extrem unsicher die Lage ist, das wollen wir hier nicht.

Wir wissen doch selber, dass das Regime schlecht ist, aber wenn das Regime dich fasst und verhaftet, dann verschwindest du vielleicht 1, 2 oder 10 Jahre. Bei den islamistischen Söldnern aber, da wirst du einfach am Wegrand erschossen.

Zur Situation der Binnenflüchtlinge: Wir brauchen hier Unterstützung für die Leute – insbesondere die Ärmsten unter ihnen schlafen am Wegrand und in ihren Autos und das seit Tagen. Die Leute wissen nicht, wann sie zurück können. Seit einer Woche ist die Zivilgesellschaft hier auf den Beinen, um die Menschen zu unterstützen – das machen wir selbst und ohne, dass es hier eine nennenswerte Präsenz von INGOs gäbe. Im Gegenteil, wir haben heute Nacht Emails bekommen von verschiedenen INGOs und Unterstützer*innen, dass sie nun rausgehen. Wir selbst können nur noch 2-3 Tage Menschen versorgen, dann sind unsere Vorräte aufgebraucht.

Gleichzeitig versucht sich das Regime gerade mit dem Roten Halbmond als attraktiven Partner zu verkaufen, indem es beispielsweise in Tell Tamer/Girê Xurma direkt die Wasserpumpe repariert hat, welche die Stadt mit sauberem Wasser versorgt.

Wir brauchen hier internationale Unterstützung, sonst werden wir mit der Situation nicht fertig.

Wie gesagt, solange es keine Garantien für die Binnenflüchtlinge und Menschen gibt, geht keiner in seine Städte zurück. Es ist also noch lange nicht vorbei.”


Monitorbericht vom 11. Oktober unserer Partner*innen von PÊL- Civil Waves

Aufgrund der türkischen Invasion im östlichen Euphrat und des Einsatzes verschiedener Waffentypen wie Luftbombardierung, Artillerie und schwere Waffen wurden viele Opfer getötet oder verwundet.

Dementsprechend haben einige Städte und Dörfer Massenexodien erlebt, insbesondere in der Stadt Sere Kaniye/Ras Al-Ain, die seit Mittwoch, 9. Oktober 2019, mit Beginn der Ankündigung der Invasion in Gebieten östlich des Euphrat stark bombardiert wurde.

PÊL-Civil Waves hat auf die schwierige humanitäre Situation reagiert und eine Notaufnahme eingerichtet, um die neuesten Entwicklungen aus Feldstudien, der Zählung von Opfern und Vertriebenen sowie einem Medienteam zur Verbreitung von Sensibilisierungsmaterialien zu überwachen.

Wie das Feldteam von PÊL – Civil Waves berichtet, haben Schulen und Gemeinden in der Stadt Hassaka insgesamt 93 Familien aufgenommen. In den Schulen und Gemeinden der Stadt Tell Tamer/Girê Xurma sind 528 Familien untergekommen. Die durchschnittliche Anzahl der Mitglieder in einer Familie in der Region beträgt 7 Mitglieder.

VERSORGUNGSLISTE
Vertriebene Menschen, die auf den Straßen hausen müssen, bis sie in Schutzräume, beispielsweise Schulen, verteilt werden können, brauchen dringend:

  • Nahrung
  • Wasser
  • Babymilch
  • Babywindeln
  • Abdeckungen
  • Kissen
  • Matratzen
  • Elektrische Taschenlampen
  • Unverzichtbare Küchenutensilien “Teller, Tassen, Löffel”
  • Erste-Hilfe-Taschen

Notizen:
Am Donnerstag, den 10. Oktober 2019, fand ein erweitertes Treffen von humanitären und zivilen Organisationen durch das Büro für humanitäre Angelegenheiten in Hassaka statt. Es wurde ein Operationsraum eingerichtet, der die Nachverfolgung und Koordination zwischen Organisationen und lokalen Behörden sowie die Aufgabenverteilung übernimmt.


Najwa vom Sawiska Frauenzentrum schickte uns gerade eine Nachricht aus Qamischli:

(11. Oktober) “Wir sind in Qamischli und haben nicht vor zu gehen. Wir versuchen die Versorgung der Fliehenden aus Sere Kaniye/Ras Al-Ain zu unterstützen. Die Menschen kommen bei ihren Angehörigen unter oder werden in Schulen untergebracht. Wir versuchen sie mit Essen, Decken und vor allem Babynahrung zu versorgen. Dafür koordinieren wir uns mit allen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen hier vor Ort wir arbeiten alle Hand in Hand. Die meisten Menschen fliehen aber aus der Grenzregion nach Hassaka und nicht nach Qamischli.”


Omar hat uns gerade angerufen, um über die Lage in Sere Kaniye/Ras Al-Ain zu sprechen.

(Omar ist einer der etlichen Aktiven in der lokalen Zivilgesellschaft und arbeitet mit der lokal aktiven, zivilen Gruppe Hevy (kurdisch für Hoffnung) for Relief and Development – eine Freundschaftsorganisation unsere Partner*innen.)

(10. Oktober) “Gestern konnte ich euch nicht mehr erreichen, die Leitung war viel zu schwach. Wir haben als zivilgesellschaftliche Gruppen versucht, die Leute bei der Flucht zu unterstützen.

Es gab ein Haus voller Menschen mit körperlichen Einschränkungen, die können nicht einfach alleine fliehen, wie soll das gehen?

Mann im Rollstuhl auf der Flucht vor türkischen Angriffen.

Am Abend sind wir dann zurück in die Stadt. Gegen 5 Uhr morgens wachten wir auf, weil es ziemlich starke Kämpfe gab. Es stellt sich heraus, dass es eine “schlafende Zelle” von IS-Kämpfern in der Stadt gab, die die Gunst der Stunde nutzen und die Stadt von innen heraus angreifen wollten. Diese ca. 15 Personen griffen einen Ceckpoint der Asayesh (lokale Polizei) an. Einige von ihnen wurden getötet, die anderen festgenommen. Polizist*innen sind dabei auch ums Leben gekommen.

Die Gefahr vom Erstarken des IS hier durch die Angriffe ist also real.

Tell Tamer/ Girê Xurma (45 km entfernt) und Hassaka (90 km entfernt) sind die Städte, die weiter im Landesinneren liegen, dorthin fliehen die Menschen aus Sere Kaniye/Ras Al-Ain. Die 45km zwischen Sere Kaniye/Ras Al-Ain und Tell Tamer/ Girê Xurma waren einfach voll, voller Fluchtautos. In Tell Tamer/ Girê Xurma gibt es keinen Ort, an den wir keine Geflüchteten gepackt haben. Selbst die Schulen sind voll.

Wir verteilen Nahrung, Matratzen und Kochutensilien an die Leute. Du musst dir vorstellen:

Die Leute haben nur ihre Kinder geschnappt und sind geflohen. Die haben nichts mitgenommen.

Die Selbstverwaltung ist gerade sehr kooperativ, wir bekommen alle Genehmigungen sofort, teilweise sagen sie uns einfach: “Legt los!“ Auch sie hat die ganze Zeit durchgearbeitet und heute sind sogar zwei aus der Selbstverwaltung zum Verteilen der Nothilfe dazu gekommen. Es gibt nun eine gute Koordination zwischen den zivilgesellschaftlichen Organisationen, aber mein Gefühl ist, dass wir noch zu langsam sind. Wir müssen darin besser werden.

Das schlechteste Szenario? Wenn die Flugzeuge loslegen! Solange es nur Artilleriebeschuss gibt, kann die Attacke abgehalten werden.

Das beste Szenario? Kein Beschuss durch Flugzeuge und das Eingreifen der Internationalen Gemeinschaft, um diesen Alptraum zu beenden.”


Unser Partner Ahmad von PEL hat uns eine Voice Message aus Hassaka geschickt. Hier nachzulesen im Wortlaut:

(10. Oktober) “Ich bin hier in Hassaka. Das liegt mehr im Landesinneren. Als gestern der Beschuss auf die Grenzregionen begann, haben wir sofort einen Aufruf verbreitet, dass wir ein Nothilfeteam aufstellen. Wir sind jetzt eine Gruppe von 25 Leuten. Die Bombardierungen trafen zuerst die Stadt Sere Kaniye/Ras Al-Ain, deswegen sind gerade die meisten Geflüchteten von dort. Die meisten Bewohner*innen dieser Stadt haben diese nun verlassen. Einige sind erst mal nur in die umliegenden Dörfer gegangen, in der Hoffnung, dass sie schnell zurückkehren können.

Die Bombardierungen waren auf zivile Gebiete in der Stadt, deswegen sind die Leute ja geflohen.

Die Stadt Tell Tamer/Girê Xurma ist gerade der Hauptaufnahmeort für die Geflüchteten aus Sere Kaniye/Ras Al-Ain. Hunderte von Familien, insbesondere jene, die hier Verwandte haben, sind aber nach Hassaka gekommen. Gestern haben wir hier ca. 100 Familien empfangen, die sonst keinen Ort hatten, an den sie gehen können, und auf drei Schulen verteilt. Das ist, was wir tun können. Aber diese Schulen sind als Fluchtzentren nicht tauglich: Die Strom- und Wasserversorgung ist schlecht, die Bäder der Schulen sind nicht vorbereitet. Es gibt keine Matratzen und keine Decken. Das einzige, das wir tun können, ist den Menschen Nahrung, insbesondere Kindernahrung, und Windeln zur Verfügung zu stellen. Es gibt auch Leute, die Medizin brauchen.

Die Leute, die noch in Sere Kaniye/Ras Al-Ain oder in Tell Tamer/Girê Xurma sind, aber nach Hassaka kommen wollen, fehlen einfach die Verkehrsmittel, um fliehen zu können.

Als PEL haben wir uns in zwei Teams aufgeteilt: Ein Team bleibt hier in Hassaka und das andere Team macht sich jetzt nach Tell Tamer/Girê Xurma auf. Wir gucken, was die Leute dort brauchen und versuchen einen Weg zu finden, sie nach Hassaka zu holen. Unser Team in Hassaka bereitet derweil Unterkünfte für die Menschen vor, wo sie aufgenommen werden können.

Wir reden hier von Hunderten Menschen und die Zahl steigt. Wir sind nun dabei festzustellen, über wie viele Menschen wir hier überhaupt reden.