Bild von der letzten türkischen Invasion in Nordsyrien: Die Bewohner*innen von Sere Kaniye/Ras Al-Ain fliehen vor den türkischen Angriffen.

“Uns als Zivilgesellschaft wird es am härtesten treffen“

Bei der türkischen Militärinvasion steht nicht mehr die Frage im Raum ob, sondern eigentlich nur noch wann. Wir haben Menschen in Nordost-Syrien, Idlib und der Türkei gefragt: Wie geht es euch mit der Bedrohung und was erwartet ihr?

Bild von der letzten türkischen Invasion in Nordsyrien: Die Bewohner*innen von Sere Kaniye/Ras Al-Ain fliehen vor den türkischen Angriffen.

JIHAN

Feministische Aktivistin aus Raqqa. Dort baut sie gerade ein Zivilgesellschaftliches Zentrum auf

Uns als Zivilgesellschaft wird es am härtesten treffen. Wir erwarten das Schlimmste.

Eins ist klar: Ein türkischer Angriff wird eine neue Fluchtbewegung auslösen. Hier in Nordost-Syrien wird dadurch die relative Sicherheit und Stabilität gefährdet. Unsere Ressourcen wie Lebensmittel werden verknappt, Menschen verlieren ihre Häuser und ihren Besitz und vor allem: es werden Menschen sterben. Die türkischen Drohungen allein wirken sich bereits jetzt negativ auf die Lage der Menschen hier in Nordsyrien als auch die Situation der Geflüchteten in der Türkei aus – es herrscht eine permanente Anspannung. Viele Geberorganisationen stellen ihre zivilgesellschaftlichen Programme ein und wandeln diese vorsorglich in Notfallhilfen um. Gerade hier in der Gegend erleben wir eine totale Umwidmung der Gelder und das heißt letztendlich: Uns als Zivilgesellschaft wird es am härtesten treffen. Wir erwarten das Schlimmste.”


WASSIM

Gehörte in Moadamiya dem Lokalen Rat an. Heute lebt er als Geflüchteter in der Türkei

Erdoğan benutzt uns als menschliches Schutzschild. Ich habe Angst und bin ausgeliefert.

“Diese türkischen Drohungen sind kein Spaß, sondern todernst. Erdoğan will zwei Millionen Syrer*innen in die zu erobernden Gebiete umsiedeln. Der Angriffskrieg betrifft damit auch uns Geflüchtete hier in der Türkei. Erdoğan will uns als menschliches Schutzschild zwischen die türkische Grenze und die von der SDF kontrollierten Gebiete packen. Und wir haben keine Wahl. Wenn er seine Ankündigungen in die Realität umsetzt, werden wir von hier einfach abgeschoben. Ich habe jetzt schon totale Angst, wenn ein Polizeiauto an mir vorbeifährt. Wer keine Verbindungen zu irgendwelchen militärischen Fraktionen in Syrien hat und auf Vitamin-B hoffen kann, für den ist das ein Albtraum. Und wer hat solche Beziehungen schon? Unsere Situation hier ist schon jetzt sehr unsicher, aber durch die Drohungen wird sie immer fragiler. Heute kam mein Vermieter zu mir und erhöhte einfach die Miete mit den Worten: “Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen.“ Wir sind einfach ausgeliefert.”


IMRAN

Unserer Partner vom Welat-Magazin in Hasaka

Die Region hier kann eine weitere Fluchtbewegung in diesem Ausmaß nicht mehr stemmen. Die Sicherheitssituation ist hier bereits sehr fragil. Die Angst vor der Rückkehr des IS im Falle einer türkischen Invasion ist enorm – und real.

“Die Menschen hier sind voller Angst und Sorge – sie fühlen die nahende Instabilität. Sie wissen sehr gut, was sie erwartet – sie haben die Invasionen und ihre Konsequenzen in Afrin 2018 und in Ras Al-Ain und Tel Abyad 2019 noch deutlich vor Augen. Das sind zwei prägende Erfahrungen extremer humanitärer Krisen und Flucht. Als die Kurd*innen aus Afrin geflohen sind, mussten sie alles zurücklassen und sind zu Vertriebenen in ihrem eigenen Land geworden. In Ras Al-Ain sind nicht nur Kurd*innen, sondern auch Araber*innen und Jesid*innen geflohen, weil allen bewusst war, dass die bloße Präsenz der Militärfraktionen für alle gefährlich ist. Menschenrechtsverletzungen sind Alltag – insbesondere gegen Kurd*innen. Die Menschen haben einfach unglaubliche Angst, dass sich diese Erfahrungen wiederholen.

Dieses Mal würde das Leid sogar noch größer sein, denn die Region hier kann eine weitere Fluchtbewegung in diesem Ausmaß nicht mehr stemmen. Wer es sich in den Grenzgebieten leisten kann, hat sich schon jetzt eine Ersatzwohnung in Hasaka eingerichtet. Wer das nicht kann, wird als Flüchtling in Flüchtlingslagern enden. Eine schlimme Perspektive. Aber auch hier in Hasaka haben die Menschen schon Angst. Viele haben bereits panisch ihre Häuser verkauft, um nach Europa zu fliehen, sobald sich eine Möglichkeit ergibt.

Wenn es zu einer Militäreskalation kommt, wird es eine der schlimmsten menschlichen Krisen sein. Die Sicherheitssituation ist hier bereits sehr fragil. Die Angst vor der Rückkehr des IS im Falle einer türkischen Invasion ist enorm – und real. Es gibt schlafende Zellen, die nur auf den passenden Moment warten, um wieder aktiv zu werden. Das ist eine existenzielle Bedrohung für die Bevölkerung. Die Menschen hier sind von allen Seiten belagert, es gibt keinen Ausweg mehr für sie, außer nach Kurdistan-Irak zu gehen und von dort weiter nach Europa. Aber eine Zukunft? Die wird es hier für uns nicht mehr geben, wenn es zu einem erneuten türkischen Überfall kommt.”


RAED

Unser Partner in Idlib von der Zeitung Zaitoun

Die erzwungene demographische Veränderung ist nicht im Interesse von uns Syrer*innen, es ist aber auch nicht überraschend, dass unsere Interessen und Forderungen im syrischen Norden keine Priorität haben.

“Der Zeitpunkt der geplanten türkischen Militäroperation kommt nicht von ungefähr, denn insbesondere durch den Ukrainekrieg gewinnt die internationale Rolle der Türkei zunehmend an Bedeutung. Für die Türkei bietet sich jetzt die einmalige Gelegenheit zu beweisen, dass sie schwer zu ignorierende Trümpfe auf der Hand hat: Sie ist in der Vermittlerrolle zwischen Russland und der Ukraine, in der sie eine moderate Position gegenüber Moskau einnimmt, und die Verweigerung der NATO-Norderweiterung um Schweden und Finnland versetzt, Erdoğan in die Lage mit Moskau als auch mit Washington verhandeln zu können. Diese Machtposition wurde schnell sichtbar, als die Türkei ihre Militäroperation ankündigte.

Erdoğans Rechtfertigung für seinen geplanten Angriffskrieg ist eine Farce: Eine Million in die Türkei geflüchtete Syrer*innen sollen in sichere Gebiete in Syrien „zurückgebracht“ werden. Das ist eine erzwungene Massenabschiebung und von Rückkehr kann keine Rede sein, die Menschen kommen doch gar nicht von dort. Es ist eine bewusst forcierte Veränderung der demografischen Struktur in den Gebieten – die kurdische Bevölkerung soll vertrieben werden. Das ist nicht im Interesse von uns Syrer*innen, es ist aber auch nicht überraschend, dass unsere Interessen und Forderungen im syrischen Norden keine Priorität haben.

Das kennen wir schon von allen Seiten: Die internationalen Akteure haben ja schon in der Vergangenheit Zugeständnisse an die Türkei gegenüber Russland und dem Regime gemacht. Das hat beispielsweise zum Austausch von Gebieten geführt (Ghouta-Afrin).

Jegliche Militäroperation, die nicht einer Lösung der syrischen Krise dient, führt lediglich zu noch mehr Chaos und verlängert unser Leid.

Das Problem: Die SDF kooperiert jetzt mit dem Assad-Regime, um sich gegen den Militärangriff zur Wehr setzen zu können. Dadurch steigt die Zustimmung der Menschen in Nordwest-Syrien zur geplanten Militäroperation, weil sie dem Irrglauben aufsitzen, dass sich die Operation gegen das Regime richte. Tatsächlich drängt sie die Syrer*innen aber nur zwischen einen türkischen Aggressor und die Kräfte eines kriminellen Regimes.”


DIYAR


ist einer unserer Partner und arbeitet im PÊL Civil Waves Zentrum in Qamishli (Nordost-Syrien)

Qamishli wird im Zentrum der Fluchtbewegung stehen. Deshalb müssen wir schon jetzt Nothilfe vorbereiten. Wir brauchen aber internationale Unterstützung, sonst können wir die Versorgung aller Fliehenden nicht schaffen!

“Die Drohungen sind bitterer Ernst. Schon jetzt gibt es ständigen Beschuss, oft fliegen türkische Flugzeuge über der Grenzregion und Drohnen beschießen immer wieder Autos der SDF – oder Autos, die so aussehen. Deshalb vermeiden wir, mit großen Autos zu fahren. Ich habe eine Freundin, sie war Kämpferin bei der SDF, und wurde von so einer Drohne getroffen – es hat ihr beide Beine abgerissen! 

Aktuell ist Erdoğan zwar an Qamishli, wo ich lebe, nicht interessiert. Wir bereiten uns trotzdem auf den Angriff vor, denn wir werden im Zentrum der Fluchtbewegung stehen. Deshalb müssen wir schon jetzt Nothilfe vorbereiten. Schulen werden in Auffanglager für Geflüchtete umgewandelt. Wir werden aber internationale Unterstützung brauchen, sonst können wir die Versorgung aller Fliehenden nicht schaffen.

Wenn Erdoğan seine Drohungen in die Tat umsetzt, dann bleibt effektiv nichts mehr von der Selbstverwaltung übrig. Man muss sich mal vor Augen führen, was 30 km hieße: von der Grenze bis zum “Internationalen Highway”. Das würde die wichtigsten Produktionsstädten, Firmen und Öl-Produktionsanlagen einschließen.

Ich glaube aber nicht, dass Erdoğan es schafft, das gesamte anvisierte Gebiet einzunehmen. Auf die USA ist zwar kein Verlass, sie hat auch die vorherigen Invasionen nicht verhindert. Aber einige Orte sind auch für das Regime extrem wichtig und möchte diese nicht in türkischer Hand sehen. Die Stimmung hier ist derzeit folgende: Eher würde man Teil Syriens bleiben wollen und sich deswegen dem Regime hingeben, als von der Türkei annektiert zu werden. Bedeutsame Städte wie Manbij und Kobane werden aber vermutlich Erdoğan in die Hände fallen. Schon jetzt sind aus Angst über 70 Familien aus Kobane in das Camp Nawroz (bei Derik) geflohen. In der Vergangenheit haben wir leider gesehen, dass die Städte, aus denen Leute fliehen, noch leichter einzunehmen sind. Die Präsenz von Menschen in den Städten ist wichtig, um keinen Vorwand für ihre Einnahme zu geben. Gleichzeitig kann man das aber auch von niemanden verlangen dort auszuharren. Wir kennen es aus Ras Al Ain gut: Die Plünderungen, die Vergewaltigungen, …“