Warten auf Gerechtigkeit: Acht Jahre Giftgas-Angriff auf Ghouta

Vor acht Jahren tötete das Giftgas Sarin rund 1.300 Menschen in den Vororten von Damaskus. Bis heute wurde keine*r der Beteiligten dafür zur Verantwortung gezogen. Aber die syrische Zivilgesellschaft arbeitet daran, Gerechtigkeit herzustellen.

Vor acht Jahren, am 21. August 2013, griff die syrische Armee die südlich von Damaskus gelegenen Regionen Ost- und West-Ghouta mit Chemiewaffen an. Nach unterschiedlichen Angaben starben von mehreren 100 bis zu 1.400 Menschen durch das Giftgas Sarin. Dabei handelt es sich um eines der schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Massenvernichtungswaffen seit Jahrzehnten. Auch Projektpartner*innen von Adopt a Revolution waren von den Angriffen betroffen. Adopt a Revolution berichtete damals ausführlich mit einem Liveblog und sammelte Stimmen aus der jungen syrischen Zivilgesellschaft sowohl hinsichtlich der Ereignisse selbst, als auch im Vorfeld des angekündigten und dann abgesagten Militärschlags der USA gegen das Assad-Regime.

Acht Jahre später sind sowohl der Verlauf der Ereignisse als auch die in Frage kommenden Täter bis ins Detail identifiziert. Allein die Strafverfolgung der Urheber befindet sich aufgrund der schützenden Hand, die Russland über die Assad-Diktatur hält, immer noch in einem Schwebezustand. Organisationen und Initiativen der syrischen Zivilgesellschaft haben sich als Reaktion der Massenverbrechen in Syrien enorm professionalisiert. Sie arbeiten heute meist von Europa und den USA aus eng mit auf internationalen Strafverfahren spezialisierten Akteuren zusammen und nutzen alle verbliebenen rechtlichen Möglichkeiten, Tathergang und Täter zu identifizieren und zum Gegenstand von Strafrechtsverfahren zu machen.

Dystopische Bitterkeit und nackte Realität

Adopt a Revolution stand und steht im engen Kontakt zu zivilgesellschaftlichen Initiativen, Projektpartner*innen und Aktivist*innen in Syrien selbst und in der syrischen erzwungenen Diaspora. Die Stimmen aus dem Liveblog im Herbst 2013 und die in der im Frühjahr 2021 zum 10. Jahrestag der Revolution herausgegebenen Publikation “Das ist kein Denkmal” haben nichts an ihrer dystopischen Bitterkeit verloren. Das nackte Entsetzen über die Realität eines derartigen Massenverbrechens und das Unvermögen der Weltgemeinschaft und insbesondere der westliche Staaten zieht sich durch die Beiträge von Augenzeugen. Ihren Widerhall finden sie in dem endlosen Meer an Menschenrechtsverbrechen die auf andere Weise und immer wieder und wieder im vergangenen Jahrzehnt in Syrien geschehen sind.

Zu Beginn der Revolution dachten wir, wenn das Regime auch nur einen Panzer in Bewegung setzt, wird die Welt eingreifen und es entmachten. Später sagten wir uns, wenn das Regime auch nur ein Kampfflugzeug einsetzt, wird die Welt zu Hilfe eilen und Assad entmachten. Dass Assad Giftgas einsetzen würde, konnten wir uns gar nicht vorstellen, und noch viel weniger, dass er Giftgas einsetzt und dann niemand etwas unternimmt.

Aktivist Saeed al Batal
Opfer des Chemiewaffenangriffs in Syrien am 21. August 2013
Hinterbliebene trauern in Erbin um Opfer des Chemiewaffenangriffs vom 21. August 2013.

Als ich die Kinder und alten Menschen vor mir hatte, die alle keine Schuld trugen, aber innerhalb von Sekunden erstickt waren, kam das Gefühl dazu, dass alle humanistischen Prinzipien der Welt verraten wurden.

Abdulsattar Sharaf, Apotheker aus Ost-Ghouta

Die Syrerinnen werden nicht vergessen, dass die internationale Gemeinschaft in der Lage war, das Regime zur Vernichtung seiner Chemiewaffen zu zwingen – aber nicht in der Lage ist, das Regime zur Beendigung der Belagerung ganzer Städte zu zwingen, in denen täglich Kinder an Hunger sterben. Allerdings stimmt die Formulierung “in der Lage sein” überhaupt nicht. Richtiger wäre: “sie wollte nicht” oder “sie war nicht interessiert”.

Razan Zeitouneh, Anwältin

Acht Jahre später: Interviews mit Augenzeugen als auch mit desertierten Regimeangehörigen, zahlreiche Analysen, sowie die forensische Auswertung einer Flut von Videobildern geben ein sehr klares Bild von den Ereignissen. Die Detailschärfe der Indizien ist gerichtsfest. Anlässlich der Einleitung eines entsprechenden Ermittlungsverfahrens bei der deutschen Generalbundesanwaltschaft im Oktober 2020 stellten die Initiativen the Syrian Archive, the Syrian Center for Media and Freedom of Expression (SCM) und die Open Society Justice Initiative über 1.000 Seiten belastenden Material zusammen. Ein dreizehnseitiges Factsheet gibt einen detaillierten Überblick – und schreibt Syriens Diktator Bashar al-Assad eine entscheidende Rolle an dem Giftgas-Verbrechen zu. 

Syrische Zivilgesellschaft: Professionell aufgestellt und gut vernetzt

Die Verantwortlichen für die Chemiewaffeneinsätze konnten bisher nicht zur Verantwortung gezogen werden. Eine Strafverfolgung etwa im Rahmen des internationalen Strafgerichtshof scheitert an der Tatsache, dass Syrien entsprechende völkerrechtliche Rahmenverträge nicht unterzeichnet hat. Für ein Sondertribunal bräuchte es die Einwilligung Russlands, welches eine konstruktive Zusammenarbeit mit einem Veto im UN Sicherheitsrat stets blockiert hat. Der Unwille Moskaus zu einer echten Aufarbeitung der Verbrechen zeigt sich schon in der Tatsache, dass die UN lange Zeit lediglich dazu mandatiert war, festzustellen ob Sarin verwendet worden ist, nicht aber von wem. 

OPCW-Chemiewaffen-Kontrolleure in Ost-Ghouta nach dem Giftgas-Angriff im August 2013.

Einige der wenigen gangbaren Wege in Richtung Gerechtigkeit bleiben die mittlerweile in mehreren europäischen Staaten eingeleiteten Ermittlungen und Strafverfahren nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip. Länder, die das Weltrechtsprinzip in ihrer nationalen Gesetzgebung verankert haben, u.a. Deutschland, können Verfahren in Hinblick auf besonders schwere Menschenrechtsverbrechen auch dann führen, wenn weder Täter noch Opfer im Land selbst ansässig sind oder die Tat nicht im eigenen Land begangen worden ist. Verfahren wie diese können einer späteren internationalen Strafverfolgung erheblich vorarbeiten und bereits jetzt z.B. in einem internationalen Haftbefehl münden. 

Die syrische Zivilgesellschaft ist professionell aufgestellt und gut vernetzt: Syrian Archive, Open Society Justice Initiative und das SCM haben zusammen mit weiteren Partnern drei Strafanzeigen zu den Sarin-Anschlägen vom 21. August 2013 auf Ghouta über einen Zeitraum von zwei Jahren ausgearbeitet. In den Jahren 2020/2021 haben sie diese im Namen von Überlebenden gestellt: jeweils eine in Deutschland, Frankreich und Schweden. Alle drei Länder haben in den letzten Monaten Ermittlungen eingeleitet. Französische und schwedische Ermittlungsrichter haben bereits Zeugenaussagen von Opfern angehört.

Viele der Opfer des Giftgas-Angriffs wurden aus Ghouta vertrieben und leben inzwischen unter erbärmlichen Bedingungen als Binnenflüchtlinge in Nordsyrien. Vor Ort unterstützen unsere Partner*innen die Menschen in informellen Lagern, wo immer sie können. Helfen Sie mit, unterstützen Sie Geflüchtete in Nordsyrien mit Ihrer Spende!