Wer protestiert eigentlich in Syrien?

Hier ein kleiner Bericht von mir über die Zusammensetzung, Organisation und Perspektive der Proteste, wie sie sich mir nach verschiednen Interviews und Berichten derzeit darstellen. Das alles gibt v.a. meine persönliche politische Analyse wider, die ich allerdings eingehend mit verschiedenen Leuten diskutiert habe, die sich gegen das Assad-Regime engagieren. Die Proteste: Es ist nicht ganz […]

Hier ein kleiner Bericht von mir über die Zusammensetzung, Organisation und Perspektive der Proteste, wie sie sich mir nach verschiednen Interviews und Berichten derzeit darstellen. Das alles gibt v.a. meine persönliche politische Analyse wider, die ich allerdings eingehend mit verschiedenen Leuten diskutiert habe, die sich gegen das Assad-Regime engagieren.

Die Proteste: Es ist nicht ganz einfach, etwas über den Charakter und die Teilnehmer der Proteste in Syrien zu schreiben, sind sie doch sehr heterogen und regional äußerst unterschiedlich. Klar ist, dass es nicht einen Akteur, eine gesellschaftliche Schicht oder eine bestimmte Altersgruppe gibt, die diesen Protest steuert oder lenkt. Vielmehr handelt es sich um ein Konglomerat von AktivistInnen, lokalen Vereinen und Gruppen, Nachbarschaftsinitiativen und vielen Einzelpersonen, die durch die Proteste politisiert wurden.

Charakteristisch für die Entwicklung und Verschiedenheit der DemonstrantInnen ist der Beginn dieses Aufstands: Vor über sechs Wochen gab es in der südlich gelegen Stadt Daraa die ersten größeren Proteste, nachdem 15 Kinder und Jugendliche (zwischen 10-15 Jahren) von der Polizei wegen einiger regimekritischer Grafities festgenommen und gefoltert wurden. Während anfangs nur 200 Menschen – meist Familienangehörige – protestierten, wuchs deren Zahl schnell auf tausende an, nachdem bereits am ersten Tag die Polizei das Feuer auf die Demonstranten eröffnet hatte. Aber nicht nur die Zahl der TeilnehmerInnen, sondern auch der Fokus der Demonstrationen änderte sich schnell. Allgemeine Parolen wie Frieden und Gerechtigkeit, wurden schon nach ein paar Tagen durch konkrete politische Forderungen abgelöst, etwa nach der der Aussetzung der Notstandsgesetze. Ein großer Verdienst der AktivstInnen in Daraa war die schnelle Organisation eines regionalen Komitees, das politische Forderungen ausarbeitete.

Inzwischen haben sich landesweit in fast allen Orten des Protests örtliche Komitees gebildet, die den Protest organisieren und zunehmend auch mit anderen vernetzt sind (u.a. über das Netzwerk, an dem ich hier mitarbeite), um gemeinsame Positionen und Forderungen zu formulieren und zu verbreiten. Im Unterschied zu Daraa nehmen Jugendliche in anderen Städten eine sehr viel zentralere Rolle ein. Sie sind es, die sich über Facebook und das Internet in einer Moschee in ihrem Ort verabreden, um dort den Protest zu beginnen. Anders als in einigen Medien behauptet, sind es nicht die freitäglichen Predigen der Imame – in Syrien werden sie vom Staat eingesetzt -, sondern das Engagement Einzelner bzw. inzwischen Vieler, die während und nach der Predigt aufstehen und anfangen Parolen zu rufen, denen sich schnell andere anschließen. Dass ausgerechnet Moscheen sich zum Ausgangsort der Proteste entwickelt haben liegt daran, dass sie inzwischen die einzigen Orte sind, an denen sich Menschen überhaupt noch versammeln können. Anderen Möglichkeiten, etwa Protesten bei und nach Fussballspielen, wurde schnell ein Riegel vorgeschoben – es wurden alle Großveranstaltungen
in Syrien abgesagt, selbst die großen, traditionellen christlichen Osterprozessionen.

Religion spielt bei den Protesten hier, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Weder die Muslimbruderschaft noch andere religiöse Gruppierungen haben es bisher geschafft, den Aufstand zu praegen, was auch daran liegt, dass es in Syrien viele verschiedene religiöse Strömungen gibt. Im Gegenteil, einer der beliebten Sprechchöre bei den Demonstrationen ist: “Wir brauchen keine Salafiyya, wir brauchen keine Muslimbruderschaft, wir brauchen einen Schritt nach vorne!” Neben dem Kampf gegen das Assad-Regime, ist die zweite wichtige Herausforderung, die die Aktivsten zu bewältigen haben, den religiösen Fundamentalisten keinen Raum zu lassen.

Das Erstaunlichste an den Protesten ist aber die Tatsache, mit welchem Selbstbewusstsein die Menschen inzwischen auf die Straße gehen. Uns erreichen hier in Beirut Videos, auf denen Menschen öffentlich und vor den Augen der Sicherheitskräfte die Demonstrationen filmen und sich dabei allen widersetzen, das zu unterlassen. Andere AktivistInnen geben offen Interviews, in denen sie ein Ende des Assad-Regimes fordern, und nennen dabei ihren richtigen Namen. Beide dieser Beispiele wären vor drei Wochen noch völlig undenkbar gewesen! Ein Reporter von Al Jazerra hat dieser Tage das schöne Bild entworfen, dass die Angst die Seiten gewechselt hat: Während jahrzehntelang die Bevölkerung Angst vor dem Regime hatte, hat nun das Regime Angst vorm Volk.

Hoffen wir, dass am nächsten Freitag noch mehr Menschen ihre Angst überwinden und ihren Protest auf die Straßen tragen!