Von Marcell Shehwaro
Als ich gefragt wurde, über den „Islamischen Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS) zu schreiben, starrte ich tagelang auf ein leeres Blatt. Wie sollte ich ISIS jenen erklären, die nicht das gleiche Maß an Gewalt und Zerstörung erlebt haben? Und gleichzeitig fragte ich mich: Welche Verantwortung tragen wir SyrerInnen für seinen Aufstieg?
Einleitend muss ich klarstellen, dass wir SyrerInnen nicht die Gelegenheit hatten, im „Sieges-Supermarkt“ einkaufen zu gehen. Für uns gab es keine Sonderangebote, wie die Flucht Assads im Stile von Tunesiens Ben Ali oder eine Absetzung à la Mubarak in Ägypten. Auch hatten wir nicht genügend Öl, um uns wie Libyen die NATO-Option zu kaufen. Uns blieb nur der Restposten Al-Qaida.
Kurz gefasst: Wir hatten nicht viel Auswahl – aber die anderen hatten bereits Pläne für unser Land.
Sechs Monate nach ihrem Beginn sandte die mittlerweile fast vierjährige syrische Revolution am „Freitag der internationalen Schutzverantwortung“ ihren ersten Hilferuf aus. Der verhallte ungehört, genauso wie die zahlreichen Appelle, die folgten. Gerichtet waren sie an die ganze Welt – doch ausgerechnet Al-Qaida antwortete.
Sind also einzig und allein wir SyrerInnen verantwortlich für den Aufstieg von ISIS?
ISIS ist weder ein Ergebnis der revolutionären Bewegung auf unseren Straßen noch unser Plan für eine zukünftige Gesellschaft. Wir haben ISIS nicht gerufen, um Menschen zu terrorisieren, und ISIS holte nicht unsere Zustimmung ein, um in unser Land zu kommen.
Auch wenn manche anderes behaupten: Die Dschihadisten kamen nicht über unsere geschlossenen Flughäfen ins Land, sondern über offene türkische und irakische Grenzen. Sie reisten mit den Pässen ihrer Herkunftsländer ein. Sie kamen auch, weil westliche Vorurteile gegenüber bärtigen Männern jede Solidarität mit unseren Opfern verhinderten. Bizarrerweise war es erst diese fehlende Unterstützung, die die Extremisten in unserem kaputten Land Fuß fassen ließ.
Ich spreche uns SyrerInnen keinesfalls von der Verantwortung frei – es ist unser Land, in dem sich das bösartige Geschwür namens ISIS ausgebreitet hat. Letztlich haben manche SyrerInnen aus der Not heraus ISIS die Treue geschworen. Und einige von Assads Schergen – machthungrig und untertan – taten es den armen Schluckern gleich, getrieben, ein Stück vom Kuchen der Macht abzubekommen.
In ihrer Naivität glaubten auch die Aufständischen, ISIS wäre zu unserer Rettung gekommen. Sie fanden es unangemessen, über dessen Makel zu sprechen, welche sich aber bald als ausgewachsene Verbrechen herausstellten. Tausende, die von Krieg oder Religion profitieren wollten oder einfach ihr Fähnchen in den Wind der neuen Mächtigen hängten, kuschten vor ISIS. Das beste Beispiel dafür sind die Geistlichen, die zu viel Angst hatten, die Jugendlichen vor dem Treueschwur gegenüber ISIS zu warnen.
Einige Kämpfer der schlecht ausgerüsteten Freien Syrischen Armee gaben, beeindruckt von der Hightech-Ausrüstung des ISIS, auf und schlossen sich der Mörderbande an. Die heizte die politischen und ideologischen Spaltungen unserer Gesellschaft weiter an, bis wir allmählich in Blut zu ertrinken drohten. Andere verbündeten sich mit ISIS, weil sie glaubten, in einem Bündnis den Krieg in unserem Sinne beenden zu können.
Doch was tatsächlich passiert ist: ISIS machte uns Angst vor unserem eigenen Traum eines zivilen, säkularen und demokratischen Staates, indem sie uns weismachten, unsere Einheit würde so endgültig zerstört. Die Allianz mit ISIS war schlicht ein Pakt mit dem Teufel.
Wenn all das unsere Verantwortung sein soll, haben wir dafür anschließend auch den höchsten Preis bezahlt. Wir sind diejenigen, die am meisten unter dem Extremismus des ISIS gelitten haben. Denn im gleichen Moment, in dem wir den Pakt mit dem Teufel aufkündigten, wurden wir Aufständischen zu Verfolgten einer zweiten Diktatur. Wieder appellierten wir an andere Staaten, uns zu helfen – denn ISIS will nicht nur uns, sondern auch andere Unschuldige in den Abgrund stoßen. Wer wird nun sein nächstes Opfer?
Ich erinnere mich noch, wie ich zwischen Aleppo und der Türkei hin- und herreiste. Entlang der Route entstanden immer neue ISIS-Kontrollposten. Schmerzhaft stellte ich fest, dass ISIS die Namen der Ortschaften geändert hatte. Unsere farbigen Revolutionsflaggen waren schwarz übermalt und viele Ortsschilder durch riesige schwarze Steine ersetzt worden, auf denen stand: „Willkommen im Islamischen Staat von Irak und Syrien“. Nur wenig deutete noch darauf hin, dass ich mich in Syrien befand.
Ich habe Angst, dass ich die schamlose Besatzung unseres Landes nicht ernst genug nehme. Ich habe Angst, weil sich die PalästinenserInnen einst auch nicht vorstellen konnten, dass ein anderer Staat auf ihrem Land entstehen könne, und die iranischen RevolutionärInnen bei dem Gedanken auflachten, eine „Islamische Republik“ könne ihre Revolution kapern. Mich lähmt die Vorstellung, dass ich schon die erste Stufe von Trauer erreicht habe – das Leugnen.
Noch immer habe ich die Worte des Busfahrers im Ohr, der meine Traurigkeit bemerkte und sagte: „Bald wird es regnen und all das Schwarz abwaschen.“
Und ich bete dafür, dass es auf Raqqa, Menbej, Mossul, Kobanî und alle anderen von ISIS besetzten Gebiete regnen wird. Doch um Syrien vom Schwarz des ISIS befreien zu können, muss der reinigende Wolkenbruch zuerst über Damaskus niedergehen.
Marcell Shehwaro, 30, ist Aktivistin und Bloggerin. Sie stammt aus Aleppo, wo sie alternative Schulprojekte unterstützt. Vor Kurzem initiierte sie die Kampagne „Same Shit“, die sich gegen ISIS wie Assad richtet. Dieser Text erschien in englischer Sprache bei Global Voices. Übersetzung: Barbara Blaudzun und Julia Nicksch
„Wie ISIS Syrien schwarz färbte“ erschien als Leitartikel der Adopt a Revolution-Zeitung vom Dezember 2014, die Sie hier als PDF abrufen können. Bestellen Sie einige Exemplare der Zeitung, um Sie an FreundInnen und Bekannte weiterzugeben, in Geschäften auszulegen oder bei Veranstaltungen zu verteilen. Gerne senden wir Ihnen kostenfrei Exemplare zu. Senden Sie uns dazu einfach eine Email an: info@adoptrevolution.org
Seit Ende 2011 unterstützt Adopt a Revolution die Projekte der jungen syrischen Zivilgesellschaft für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Zivile AktivistInnen streiten weiterhin für ihre Freiräume und sind die letzten, die in Syrien noch humanitäre Hilfe für die Opfer von Verfolgung durch Diktatur und IS-Terror leisten können. Helfen Sie mit, diese Projekte der Selbsthilfe zu ermöglichen!