10 Jahre Revolution in Syrien: Vielleicht verloren, aber sicher nicht vorbei

Auch wenn zuletzt weniger Bomben fallen und das Assad-Regime scheinbar wieder fest im Sattel sitzt: Wir können das Kapitel “Syrien” nicht hinter uns lassen.

Was in Syrien vor zehn Jahren mit friedlichen Demonstrationen als Revolution im Rahmen des so genannten “arabischen Frühlings” begann, gilt inzwischen als größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts. Doch auch wenn zuletzt weniger Bomben fallen und das Assad-Regime scheinbar wieder fest im Sattel sitzt: Wir können das Kapitel “Syrien” nicht hinter uns lassen.

Demonstration gegen das Assad-Regime in Zabadani

Nach dem Sturz von Ben Ali in Tunesien und dem von Mubarak in Ägypten dauerte es noch ein paar Wochen, bis auch die Menschen in Syrien auf die Straße gingen. Doch Mitte März 2011 begann, ausgehend vom ländlichen Daraa, der Aufstand gegen das Assad-Regime. Mit friedlichen Demonstrationen forderten die auch Syrer*innen Freiheit und Würde – und wollten die seit Jahrzehnten alles kontrollierende Diktatur abschütteln. Was als Fest der Demokratie begann verwandelte sich mit den ersten Schüssen auf friedliche Proteste, mit der gewaltsamen Antwort des Assad-Regimes Schritt für Schritt in die größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts ist.

Können wir also zehn Jahre nach dem Aufstand ein neues Kapitel aufschlagen, in dem wir Syrien Syrien sein lassen?

Die Festnahme und Folter friedlicher Demonstrant*innen, vom Regime freilich als “Terroristen” diffamiert, dann der Einsatz von Kampfflugzeugen gegen “oppositionelle Gebiete”, das läutete ein Jahrzehnt der Katastrophen ein. Erst seit rund einem Jahr ist ruhiger geworden um Syrien: Der Waffenstillstand in der Region Idlib hält halbwegs. Wegen des EU-Türkei-Deals und einer Mauer entlang der türkisch-syrischen Grenze kommen kaum noch Flüchtlinge in Europa an. Die Corona-Krise hat auch Syrien in der Hand, aber das gilt schließlich auch für den Rest der Welt. Können wir also zehn Jahre nach dem Aufstand ein neues Kapitel aufschlagen, in dem wir Syrien Syrien sein lassen?

Nein, das können wir nicht, schon deshalb nicht, weil Syrien weiterhin ein ungeheures Potenzial für Katastrophen birgt. So hat Assad mehrfach angekündigt, seinen Krieg so lange fortzusetzen, bis das letzte Stück Syriens wieder unter seiner Kontrolle ist. Doch eine groß angelegte Offensive auf die Region Idlib würde unweigerlich eine neue Massenflucht provozieren. Rund vier Millionen Menschen drängen sich mittlerweile in der Region, für die große Mehrheit von ihnen ist eine Rückkehr zum Regime keine Option, aber auch über die abgeriegelte Grenze zur Türkei können sie sich nicht retten. Es wäre an den europäischen Staaten, die so dringend eine neue große Fluchtbewegung auf die eigenen Grenzen vermeiden will, den Menschen vor Ort eine Perspektive zu bieten.

Doch selbst ohne fortgesetzte Katastrophe stellt sich die Frage, wie Europa künftig mit einem vom Assad-Regime kontrollierten Syrien umgehen will. Spätestens nach ersten Urteil im Staatsfolterprozess von Koblenz ist klar: Die massenhafte und systematische Folter gehört seit Jahrzehnten zur DNA dieses Regimes. Es hat seine Menschenfeindlichkeit, seine Brutalität im Krieg gegen die eigene Bevölkerung so offen zur Schau gestellt, dass Europa nicht wieder zur Tagesordnung übergehen kann und darf.

Zusammenarbeit mit einer Diktatur?

Sicherlich es wäre eher die Ausnahme, wenn Europa nicht nach einiger Zeit selbst wieder mit einem diktatorischen Regime in dieser Gewaltliga zusammenarbeiten würde. Die Forderung, unwirksame Sanktionen aufzuheben, mögliche Wiederaufbauhilfen zur Bekämpfung von Fluchtursachen oder eine Zusammenarbeit, um Kriminelle oder “Gefährder” abschieben zu können – mögliche Gründe für eine “Normalisierung” der Beziehungen zum Assad-Regime gibt es zahlreiche. Und der Fall Ägypten zeigt, wie flexibel europäische Regierungen in Menschenrechtsfragen sein können, wenn sie sich Stabilität in der Region versprechen.

Video Interviews zum 10. Jahrestag der Revolution

Doch es gibt Argumente, warum Syrien diese Ausnahme sein und bleiben muss. Da sind die so genannten “Caesar”-Bilder, die ein ehemaliger Militärfotograf des Assad-Regimes 2013 außer Landes schmuggeln konnte: Viele der rund 50.000 Aufnahmen zeigen Leichen von Menschen, die in syrischen Haftanstalten gefoltert und getötet wurden. Sie sind längst nicht der einzige Beweis für die Unmenschlichkeit des syrischen Regimes, aber allein die schiere Masse ist erdrückend. Das Assad-Regime hat seine eigenen Verbrechen offenbar so detailliert dokumentiert, dass es – so heißt es – mehr Beweise für Kriegsverbrechen in Syrien gibt, als nach dem zweiten Weltkrieg gegen Nazideutschland vorgelegen hätten.

Da ist auch das letzte bisschen außenpolitische Glaubwürdigkeit, das Europa angesichts der syrischen Tragödie noch haben mag. Ja, die Europäische Union versteht sich als Friedenskraft und ordnet vieles in seinen Beziehungen mit anderen Staaten der Wirtschaftspolitik unter. Doch der Fall Syriens zeigt, welche katastrophalen Auswirkungen diese Nicht-Einmischung und das aktive Wegsehen angesichts eines ungehemmten Kriegs gegen die Zivilbevölkerung haben kann. Chemiewaffenangriffe mit tausenden Opfern, Belagerungen von ganzen Städten, tausendfach gezielte Angriffe auf zivile Infrastruktur… Wer jetzt den “Siegern” ohne echte Zugeständnisse Sanktionen erlässt oder gar Wiederaufbauhilfe zusagt, der hat moralisch versagt und seine Werte endgültig aufgegeben.

800.000 Syrer*innen in Deutschland

Da sind aber auch die Millionen von Syrer*innen, die im letzten Jahrzehnt vor Krieg und der Verfolgung geflohen sind, davon viele nach Europa. Diese Menschen bringen ihre Erfahrungen mit, berichten über ihre Erlebnisse. Statt auf eine scheinbare Stabilität in Syrien zu setzen, die nichts anderes als eine Grabesstille sein kann, täten Politiker*innen aller Couleur gut daran, diesen Menschen zuzuhören. Denn angesichts eines Assad-Regimes, das absehbar noch lange Jahre bestehen wird, hat ein großer Teil der Syrer*innen hierzulande keine Perspektive auf Rückkehr.

Von syrischen AktivistInnen organisierter Protest in Berlin. Foto: jib-collective

So werden sich die rund 800.000 Syrer*innen in Deutschland, immerhin rund ein Prozent der Bevölkerung, in den nächsten Jahren mehr und mehr integrieren und am gesellschaftlichen Leben partizipieren. Bereits jetzt prägt der Konflikt in Syrien damit unsere Gesellschaft – und viele Einbürgerungen später wird diese Prägung eher noch zunehmen.

Deshalb gilt: Ja, vielleicht mag die syrische Revolution verloren haben. Das Kapitel Syrien ist aber noch lange nicht nicht vorbei – und das ist richtig so.

Adopt a Revolution unterstützt in Syrien zwölf zivile Projekte, die vor Ort weiter für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte streiten – und sich dabei Diktator und Dschihadisten gleichermaßen erwehren. Helfen Sie mit, unterstützen Sie diese Arbeit mit Ihrer Spende!