Menschen in Idlib: Retten oder sterben lassen?

In Idlib läuft die Entscheidungsschlacht des Kriegs in Syrien. Die Türkei verlegt große Truppenverbände in die Region, Diktator Assad und sein Verbündeter Russland intensivieren die Bombardierungen und zwingen Hunderttausende in die Flucht. Die Grenze zur Türkei ist seit dem EU-Türkei-Deal abgeriegelt – drei Millionen Menschen sitzen in der Falle zwischen Assad-Diktatur und islamistischen Milizen. Die Bundesregierung und Europa müssen Antworten bieten!

Mit großer Geschwindigkeit rücken Assads und Russlands Militär in der nordwestsyrischen Provinz Idlib vor und zwingen dabei die Bevölkerung in die Flucht. Die Truppen des Assad-Regimes stehen bereits kurz vor Idlib-Stadt, viele der rund eine Million Bewohner*innen bereiten sich auf eine Flucht vor. Gleichzeitig verlegt die türkische Armee große Truppenverbände nach Idlib – allein am Wochenende hat Ankara über 1.000 militärische Fahrzeuge, darunter Leopard 2-Panzer aus deutscher Produktion, nach Idlib entsendet, um in der Provinz zu kämpfen.

Angesichts der militärischen Bedrohung und breiten Bombardierungen durch die Assad-Armee und seinen russischen Verbündeten strömen Flüchtende in die relative Sicherheit der türkischen Grenzgebiete. Aber: Die Grenze zur Türkei ist in Folge des EU-Türkei-Abkommens von 2016 dicht, ein Entkommen, auch von Verfolgung durch islamistische Milizen, ist damit quasi unmöglich. Viele Flüchtlinge harren in provisorischen Lagern vor der Grenze aus – im Regen, in der Kälte und ohne ausreichende medizinische Versorgung. Die humanitäre Situation ist nahezu an ihrem Siedepunkt angekommen.

Die Reaktionen der Internationalen Gemeinschaft, der Europäischen Union oder der Bundesregierung sind überschaubar und kommen über humanitäre Appelle und Solidaritätsbekundungen nicht hinaus. Es ist seit 2011 nicht gelungen, die Zivilist*innen vor Angriffen und Bomben zu schützen, es gibt keine sichere Region in die Verfolgte fliehen könnten. Selbst dringend notwendige humanitäre Hilfe scheitert im UN-Sicherheitsrat an russischen und chinesischen Vetos – und an der Abschottung der Grenze zur Türkei war die EU aktiv beteiligt. Längst scheinen wir uns an das Grauen in Syrien und seine immensen Dimensionen gewöhnt zu haben, längst scheinen wir uns mit dem Kriegsverbrecher und Diktator Assad abgefunden oder gar „angefreundet“ zu haben.

Es war wie der Jüngste Tag, so viel Chaos“ erzählt Lina, Partnerin von Adopt a Revolution aus Ariha. „Wir wollten die Sachen aus unserem zivilen Zentrum mitnehmen, um irgendwo weiterarbeiten zu können. Aber alle Menschen mussten auf einmal fliehen als die syrische Armee schnell näherrückte. Es ist wichtiger, dass ein Auto Menschen transportiert, als Gegenstände, deshalb ließen wir alles zurück.“ Bis zu ihrer Flucht leitete Lina ein Zentrum für die lokale Zivilgesellschaft, das sich für Demokratisierung, Versöhnung und Bildung einsetzt.

Angesichts der aktuellen rasanten Entwicklungen stehen rund drei Millionen Menschen in Idlib buchstäblich vor dem Nichts. Nach UN-Angaben waren bis Mitte letzter Woche allein seit Dezember etwa 520.000 Menschen vor den Kämpfen geflohen, seit der Offensive auf Idlib insgesamt sind es über eine Million. Viele von ihnen sitzen im Schlamm an der abgeriegelten türkischen Grenze in notdürftig errichteten Flüchtlingslagern fest. Die Menschen haben nichts mehr zu verlieren, außer ihrem Leben, das akut bedroht ist. Adopt a Revolution ruft deshalb auf, für die Betroffenen zu spenden, wichtiger wäre jedoch, eine sichere Fluchtoption zu schaffen.

Es gibt derzeit nur zwei Möglichkeiten: Wir können den Menschen helfen in Sicherheit zu gelangen und ihnen Schutz vor den andauernden Bombardierungen bieten. Oder wir verharren weiterhin in der Rolle des stillen Beobachters – und verspielen nicht nur den letzten Rest Glaubwürdigkeit unserer humanitären Appelle, sondern nehmen ebenso in Kauf, dass Menschen in ihrer Verzweiflung und Todesangst versuchen, die türkische Grenze zu überwinden. Damit wird eine neue Massenflucht in Richtung Europa wahrscheinlich, EU-Türkei-Abkommen hin oder her.

Europa, die Bundesregierung, aber auch wir als Gesellschaft stehen vor der Wahl: Welche Rolle wollen wir einnehmen? Welche Perspektive wollen wir den Menschen in Syrien geben? Wie antworten wir auf die millionenfache Bitte: Helft uns!