Die zerstörten Überreste des Beiruter Hafens liegen aktuell in Flammen.

“Das politische System hat die Hauptstadt in die Luft gejagt”

Zwei Jahre nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut am 04.08.2020 sind die Auswirkungen immer noch deutlich spürbar. Vom Wiederaufbau des Hafens keine Spur – im Gegenteil: Zwei Jahre nach der katastrophalen Verwüstung stehen die Überreste des Hafens aktuell in Flammen.

Die zerstörten Überreste des Beiruter Hafens liegen aktuell in Flammen.

„Die Explosion in Beirut ist größer als 224 Tote, 7.000 Verletzte, 150 Personen mit dauerhaften Schäden und 300.000 Obdachlose. Am 4. August 2020 jagte ein politisches System die Hauptstadt in die Luft und Parteien versuchen, die Ermittlungen zu verhindern und Straflosigkeit zu erlangen. Der 4. August – eine Explosion vom Ausmaß eines Landes und ein Verbrechen gegen die Menschen.“ Mit diesen Worten riefen Familien der Opfer und Aktivist*innen im Vorfeld des 4. August anlässlich des zweiten Jahrestages der Beiruter Hafenexplosion zum Protestmarsch in Beirut auf. 

Die Hafenexplosion war Systemversagen

Am 04.08.2020 explodierte tonnenweise illegal gelagertes Ammonium im Beiruter Hafen in der größten nicht-nuklearen Explosion der Geschichte. Eine Opferzählung der unabhängigen Medienorganisation “The Public Source” sprach bereits vor einem Jahr von 252 Toten – bis heute sterben Menschen an den Folgen der Katastrophe. Trotz mehrfacher Warnung hatten die Behörden das hochexplosive Ammonium wochenlang nicht beseitigt. Eine Katastrophe mit Ankündigung als Folge kompletten Systemversagens. Anstatt die Aufarbeitung voranzubringen, werden die Ermittlungen aktiv behindert. Nicht nur für die Opfer kommt dies einer Fortsetzung des Verbrechens bis heute gleich.

Der Aufruf der Überlebenden, Angehörigen und Aktivist*innen macht deutlich, was teilweise in Vergessenheit zu geraten scheint: Die Hafenexplosion war kein tragischer Unfall. Sie war das Ergebnis einer menschenverachtenden Politik, die sich durch Fahrlässigkeit, Passivität und Korruption auszeichnet. 

Die Hafenexplosion wurde durch das Zusammenspiel jahrelang etablierter Strukturen innerhalb eines korrupten Regimes herbeigeführt.

Die Zahl der Angeklagten, die im Vorfeld der Explosion über das im Hafen lagernde Ammonium Bescheid wussten und nicht handelten, reicht vom Präsidenten Aoun über Verantwortliche in Parteien, der Armee, dem Geheimdienst und dem Zoll bis hin zur libanesischen Justiz. Bis heute wurde niemand der Hauptverantwortlichen verurteilt. In diesem Sinne tragen Vertreter des gesamten Regimes Schuld an der Katastrophe – einschließlich der Hisbollah, die zu diesem Zeitpunkt inoffiziell den Hafen von Beirut kontrollierte.

Die Hafenexplosion wurde durch das Zusammenspiel jahrelang etablierter Strukturen innerhalb eines korrupten Regimes herbeigeführt: Ein Regime, das auch für die Umverteilung öffentlicher Güter und die Vergabe öffentlicher Dienstleistungen an private Klientelnetzwerke verantwortlich ist – und so maßgeblich zu der aktuellen, verheerenden Wirtschaftskrise beiträgt. 

Im Kontext dieser korrupten und ineffizienten Strukturen ist die Hafenexplosion daher nicht als herausgelöstes, singuläres Ereignis zu verstehen, sondern als ein besonders gewaltsamer Moment in einer anhaltenden, jahrzehntelangen Reihe desaströser Vorkommnisse und krimineller Politiken, hervorgerufen durch Klientelismus, Verantwortungslosigkeit und Korruption des libanesischen Regimes.

Libanons politische Klasse verhindert die Aufarbeitung

Dieses Regime, dessen Existenz durch diverse internationale Unterstützung über Jahrzehnte gesichert und legitimiert wurde, schreibt nun also seit zwei Jahren erfolgreich seine Geschichte der Straflosigkeit fort. Die libanesische Untersuchung der Explosion war von Anfang an systematischer und offensichtlicher Verschleppung und politischer Behinderung ausgesetzt: Der ursprünglich ernannte Richter, Fadi Sawan, wurde entlassen, der nächste, Tarek Bitar, musste aufgrund juristischer Anfechtungen der Angeklagten im letzten Winter die Untersuchung pausieren. Vorgeladene erschienen wiederholt nicht zum Verhör. Parallel wurden Familienangehörige der Opfer bedroht, ihre Interessenvereinigung mutmaßlich unter Druck gesetzt und gezielt entzweit. Genau sechs Monate nach der Explosion wurde Lokman Slim erschossen, der wiederholt offen über die Verstrickungen der Hizbollah im Zusammenhang mit der Hafenexplosion gesprochen hatte. 

Wenn in diesen Tagen von den Machthabern zugelassen wird, dass die Hafensilos ausbrennen und Trakt um Trakt in sich zusammenstürzen, dann ist davon auszugehen, dass es sich auch hierbei um den kaum verschleierten Versuch handelt, den Tatort und damit den zentralen Ort des Verbrechens und der kollektiven Erinnerung, verschwinden zu lassen und gezielt zu verfälschen und letztendlich auszumerzen.

Die jahrzehntelange Geschichte und politische Kultur der Straflosigkeit im Libanon sitzt tief, ihr Bewusstsein ist fundamental verankert durch die Generalamnestie, mit der der Bürgerkrieg 1990 offiziell endete. Diese Kultur der Straflosigkeit hat sich eingespielt und funktioniert bis auf Weiteres und ihre Vertreter agieren selbstsicher vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Der Kampf der Hinterbliebenen geht weiter, daran besteht kein Zweifel.

„Killon yaane killon“, alle heißt alle, war das Motto der Massenproteste von 2019, die die Abschaffung des korrupten, ausbeuterischen libanesischen Klientel-Systems forderte. Die Überlebenden und Angehörigen kämpfen weiter um Gerechtigkeit. Neben regelmäßigen Protesten und Mahnwachen in Beirut appelieren 11 Menschenrechtsgruppen zum heutigen Tag an den UN-Menschenrechtsrat, um eine internationale, unabhängige Untersuchung zu ermöglichen. Im Juli reichten Familien einiger Opfer der Explosion in den USA Klage gegen die amerikanisch-norwegische Firma TGS ein, die verdächtigt wird, an der Beförderung des Ammoniums zum Hafen beteiligt gewesen zu sein.

Der Kampf der Hinterbliebenen geht weiter, daran besteht kein Zweifel.

Für viele Menschen im Libanon sind spendenfinanzierte zivilgesellschaftliche Initiativen die einzige Chance, Unterstützung zu erhalten. Seit der Explosion unterstützt Adopt a Revolution daher zwei zivile Initiativen im Libanon: Das »Café Riwaq«, das als wichtiger Treffpunkt ziviler Aktivist*innen für Vernetzung sorgt und mit einer “Küche vor Alle” Nothilfe für marginalisierte Gruppen anbietet. Und das Projekt »Syrian Eyes«, eine selbstorganisierte Initiative, die Lebensmittel und medizinische Hilfe für notleidende syrische Geflüchtete, Libanes*innen und Migrant*innen organisiert.