Die Abschiebungen von Syrer*innen markieren eine neue Eskalationsstufe. War das absehbar?
Die Syrer*innen leben seit Monaten in Angst vor Abschiebungen. Es gab viele Vorzeichen: Beispielsweise durften wir seit Januar nicht mehr in den Flüchtlingscamps arbeiten und sie mit Lebensmitteln und Decken versorgen. Gleichzeitig wurden die Campbewohner*innen permanent von der Armee schikaniert.
Aber auch schon davor haben die libanesischen Behörden immer mehr Syrer*innen ihre Aufenthaltsgenehmigungen entzogen. Das Ausmaß dieser Politik ist schwer zu greifen. Es gibt viele Gründe, warum Personen ihren Status verlieren können. Ein Beispiel: Viele Menschen leben hier mit einem Studierendenvisum. Ein neues Gesetz zwingt Studierende dazu ihre Finanzen offenzulegen. Wenn dabei herauskommt, dass sie arbeiten, verlieren sie ihren Aufenthaltsstatus, weil sie dazu nicht berechtigt sind. Aber wie sollen sie die Studiengebühren bezahlen und überleben ohne Arbeit?
Ein weiteres Beispiel: Wenn Geflüchtete ihren Status verlängern wollen, werden viele von ihnen abgelehnt. Mit der Ablehnung kommt automatisch der Abschiebebescheid. Wer dann nicht freiwillig ausreist, hält sich illegal im Land auf. Aber die meisten können nicht zurück. Sie sind politisch verfolgt oder militärdienstpflichtig. Leider hat auch die UN vielen rückwirkend ihren Flüchtlingsschutz entzogen, angeblich aus Finanzierungsproblemen. Damit hat sich die UN in gewisser Weise zur Komplizin dieser menschenfeindlichen Politik gemacht.
Wir wussten also, dass sowas wie Abschiebungen bevorstehen. Wir wussten nur nicht, wann es losgehen würde. Seit ca. 1,5 Monaten ist es nun bittere Realität.
Wer ist von den Abschiebungen konkret bedroht?
Die Abschiebungen beinhalten eine klare klassistische Komponente, denn Ziel sind derzeit vor allem prekarisierte Arbeiter*innen und Illegalisierte. Das Vorgehen der Armee ist dabei ziemlich brutal: Sie fällt in die Wohnblöcke verschiedener Stadtviertel ein, in denen vor allem Syrer*innen wohnen, treibt sie zusammen und schiebt sie dann in einem Rutsch ab – von jetzt auf gleich. Nicht zu Hause zu sein, rettet die Betroffenen leider auch nicht. Ganz im Gegenteil: Es passiert immer wieder, dass die Armee gezielt Syrer*innen auf Mopeds anhält, in Gewahrsam nimmt und sofort zur Grenze bringt.
Warum passiert das ausgerechnet jetzt?
Die libanesischen Eliten haben einen Sündenbock für die katastrophale Situation im Land gebraucht. Es war nur eine Frage der Zeit, aber ich denke, dass die aktuellen Normalisierungen der arabischen Staaten mit dem Assad-Regime ebenfalls eine Rolle spielen, weil es diese Politik legitimiert.
Wie ist die Stimmung innerhalb der libanesischen Gesellschaft? Gibt es Solidarität aus der Bevölkerung?
Nein, es gibt kaum öffentliche Solidarität, ganz im Gegenteil: In den letzten Wochen gab es immer wieder Demonstrationen für die Abschiebung von Syrer*innen. Es gab sogar eine Demonstration von Exil Libanes*innen in Paris. Derzeit läuft auch die sogenannte „Nationale Kampagne zur Befreiung des Libanon von der syrischen demografischen Besatzung”, in der radikale Kräfte eine Ausweisung aller Syrer*innen im Land fordern. Außerdem haben libanesische Bürger in einigen Stadtvierteln, beispielsweise im christlichen Nobelviertel Ashrafiyeh, sogenannte “Nachbarschaftswachen” gegründet, die in den Vierteln patrouillieren und Jagd auf Syrer*innen machen.
Gleichzeitig verlieren viele gerade ihre Wohnung, weil ihnen gekündigt wird. Das liegt auch an einer neuen Auflage, die libanesische Vermieter*innen verpflichtet den Behörden zu melden, wenn sie syrische Mieter*innen haben und welchen Job diese ausüben. Das ist hochproblematisch, weil Syrer*innen legal nur in drei Sektoren arbeiten dürfen: Haushalt, Landwirtschaft, Bauwesen. Andernfalls verlieren sie sofort ihren Aufenthaltsstatus und finden sich im Zweifel bereits morgen an der syrischen Grenze wieder.
Konntet ihr verfolgen, wie es für die Abgeschobenen weiterging?
Viele der Betroffenen sind direkt nach der Ankunft in Syrien verschwunden. Ihre Familien wissen nichts über ihren Verbleib und werden es vielleicht niemals erfahren. Bei anderen haben wir Klarheit, was passiert ist und wo sie sind, denn einige – meist junge Männer – wurden noch direkt an der Grenze verhaftet und inhaftiert oder eingezogen. Es wurden bereits 600 Personen abgeschoben, weitere 1.000 befinden sich in Abschiebehaft. Es ist absolut schrecklich. Die Situation setzt uns allen Syrer*innen hier im Libanon psychisch sehr zu.
Welche Art von Unterstützung brauchen die Syrer*innen im Libanon jetzt, beispielsweise von den westlichen Staaten?
Die UN und die westlichen Staaten brauchen ganz schnell ein Schutzkonzept für uns. Die libanesische Regierung muss unter Druck gesetzt werden, unsere Rechte zu achten und nicht immer weiter auszuhöhlen.
Wir brauchen Unterstützung, damit wir hier mit einem Minimum an Würde legal leben können. Wir können uns nicht mal frei im Land bewegen – was sage ich, nicht mal in Beirut! Es braucht mehr Aufmerksamkeit und Interesse für unsere Situation! Wir wollen, dass die Menschen außerhalb des Landes verstehen, was hier passiert. Das hier ist kein Leben. Wir brauchen euch!