Aufklärung über das Cotona-Virus in einem Flüchtlingslager in Idlib
Partner*innen von Adopt a Revolution klären in einem Flüchtlingslager in Idlib über die Pandemie auf.

Corona in Nordwest-Syrien: Verheerende Welle und kaum Schutz

Aktuell steigen die SarsCoV-II-Infektionen und Todesfälle in allen Landesteilen Syriens stark an. Die Bevölkerung ist der Pandemie größtenteils schutzlos ausgeliefert. Das gilt besonders im Nordwesten. Hier fehlt es längst nicht nur an Intensivbetten, sondern auch an Ärzt*innen, Pfleger*innen und Sauerstoff. Nur ein Bruchteil der Menschen ist bereits geimpft.

Aufklärung über das Cotona-Virus in einem Flüchtlingslager in Idlib
Partner*innen von Adopt a Revolution klären in einem Flüchtlingslager in Idlib über die Pandemie auf.

„Jeden Tag sterben hier rund zehn Menschen, letzte Woche darunter allein drei, die häufig unser Center besuchten und die ich daher persönlich kannte“, berichtet uns Anes, Leiter des von uns unterstützten Hooz-Centers in Azaz. Seinem Eindruck nach steigen die Corona-Fälle in der von der Türkei kontrollierten Stadt aktuell massiv. Auch andere Partner*innen aus dem Nordwesten beobachten, dass sich aktuell mehr Menschen in ihrem Umfeld infizieren als bisher. 

Katastrophale Situation in den Krankenhäusern

Die Folgen sind im Nordwesten besonders gravierend, weil das Assad-Regime und die russische Luftwaffe hier seit Jahren gezielt die medizinische Infrastruktur dezimieren. Zudem sind die Krankenhäuser und medizinischen Zentren, die die Angriffe bislang überstanden haben oder neu aufgebaut wurden, darauf ausgerichtet, Kriegsopfer zu versorgen. Zur Behandlung von Corona-Infektionen gibt es kaum Ressourcen – wie etwa Dr. Muhib Qudour aus dem Krankenhaus Atmeh in diesem Video schildert:  

Mehreren Berichten zufolge fehlte es nicht nur an Intensivbetten zur Betreuung der schwersten Fälle, sondern etwa auch an Sauerstoff. Menschen, denen hierzulande durch etwas Sauerstoffzufuhr geholfen werden könnte, droht in Nordwestsyrien schnell Lebensgefahr.

„Wir müssen oft warten bis wir einen Patienten von den Geräten nehmen können oder bis jemand stirbt, um jemand anderes versorgen zu können“, zitiert Reuters einen Arzt aus Idlib. Triage ist in Nordwestsyrien immer wieder erforderlich – und traurigerweise ist sie den Ärzt*innen aufgrund der andauernden Kriegssituation schon lange vertraut. 

Channel 4 News berichtet, insgesamt gebe es für die 4 Millionen Menschen im Nordwesten 120 Intensivbetten. Vor den Krankenhäusern warten verzweifelte Menschen darauf, dass ihre schwer erkrankten Angehörigen ins Krankenhaus aufgenommen werden können. Ein Arzt berichtet von einer Zunahme von schwer an Corona erkrankten Kindern, mindestens zwei Minderjährige starben. Aufgrund von Mangelernährung seien viele Kinder geschwächt.

Auch die Statistiken zeigen stark steigende Fälle. Laut WHO-Daten stiegen die erfassten Infektionen von August bis September um 144 Prozent, die Gesamtzahl der Toten wird mit 1.151 angegeben. Die Humanitarian Response Coordination für Nordwest-Syrien berichtet etwa für den Zeitraum Anfang April bis Ende September von über 15.000 Fällen in der relativ kleinen Stadt Harim, von über 9.000 Fällen in Idlib und über 8.000 Fällen in Afrin. Weil Tests nicht überall zugänglich und allgemein knapp sind, wird vermutlich nur ein geringer Teil der Corona-Infektionen erfasst. 

Seid vorsichtig – aber wie?

Lüften, desinfizieren, Masken tragen, aufklären und zur Impfung motivieren: Gesundheitsschutz im Sawadena-Center in Ariha

Sich durch social distancing vor einer Infektion zu schützen ist für die meisten Menschen in Idlib schwierig. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt in überfüllten Camps. Auch wer eine feste Bleibe hat, kann sich meist nicht leisten, über mehrere Tage Zuhause zu bleiben. Auch unsere Partnerprojekte können ihre Arbeit nicht einfach einstellen, ohne ihre Communities alleine zu lassen.

“Wir sind jetzt extrem streng bei uns im Center. Wir lassen nur kleine Gruppe von sechs bis zehn Leuten zu. Überall wird regelmäßig gelüftet, alles findet nur mit Maske statt“, berichtet unsere Partnerin Sara vom Sawaedna Center in Ariha. „Wir haben eine große gesellschaftliche Verantwortung und der müssen wir gerecht werden“.

Unsere Partnerinitiativen in Syrien arbeiten seit Beginn der Pandemie daran, die Bevölkerung über das Virus und seine Verbreitungswege aufzuklären. Sie kümmern sich um Verbesserungen der Hygienesituation in Flüchtligslagern, verteilen Desinfektionsmittel und Masken und werben dafür, dass Impfangebote angenommen werden. Bitte unterstützen Sie diese Arbeit mit einer Spende:

Wenig Impfangebote und verbreitete Impfskepis

In Ariha gab es lange Zeit keine Impfangebote. »Die medizinisch ausgerichteten Hilfsorganisationen haben hier im Süden Idlibs keine Infrastruktur. Wer sich impfen lassen will, muss nach Rif-Aleppo“, berichteten unsere Partner*innen vor Kurzem. Zum impfen rund 100 Kilometer nach Norden zu fahren, sei teuer, umständlich und unter Umständen auch gefährlich.

Anes vom Hooz-Center bestätigt, dass es bei Ihnen in Rif-Aleppo bereits seit einiger Zeit Impfangebote gebe. „Es gibt hier meines Wissens nach zwei Impfstoffe – ein chinesischer Impfstoff und Astra-Zeneca. Gespritzt wird, was vorrätig ist.“ 

Das Angebot werde aber nicht von allen angenommen, es gebe viel Skepsis gegenüber der Impfung, sagt Anes. Auch andere Partner*innen berichten, dass Falschinformationen, religiös begründete Vorbehalte und allgemeines Misstrauen gegenüber Organisationen und Behörden Menschen davon abhielten, sich impfen zu lassen. 

„Wir als Center-Mitarbeiter*innen wollen Vorbilder sein und haben uns sofort impfen lassen“, sagt Anes. „Wir können nicht die Leute, die zu uns kommen, in Gefahr bringen.“

Situation in anderen Landesteilen

Die aktuelle Corona-Welle lässt sich von politischen und militärischen Fronten nicht aufhalten. Auch der kurdisch geprägte, von der Selbstverwaltung regierte Nordosten Syriens ist aktuell schwer betroffen, dass die Behörden dort am Montag das öffentliche Leben stark eingeschränkt haben. Die Maßnahmen sollen zunächst bis zum Ende der Woche aufrecht erhalten werden. Sie sind allerdings insbesondere für all jene eine große Bürde, die prekären Arbeitsverhältnissen unterworfen sind und mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben.

Im vom Assad-Regime kontrollierten Teil ist die Zahl der Infektionen offenbar auch gestiegen, wobei die offiziellen Zahlen eventuell wenig über die tatsächlichen Entwicklungen aussagen. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana liegt die Gesamtzahl der Fälle bei rund 34.700 und der Toten bei 2.270. Aktuell ist die Situation in den Krankenhäusern offenbar derart angespannt, dass Patient*innen aus Damaskus in die weit über 100 Kilometer entfernten Städte Homs und Hama gefahren werden.

Können Sie unsere oben zitierten Partner*innen aus Ariha und Azaz mit einer Spende unterstützen? Mit Ihrer Solidarität fördern Sie das zivilgesellschaftliche Leben in den beiden von Krieg und Vertreibung geprägten syrischen Städten. Unsere Partner*innen organisieren dort Hilfs- und Bildungsangebote für die Zivilbevölkerung und fördern Partizipation und Engagement. Vielen Dank für Ihre Unterstützung!