Große Teile der syrischen Bevölkerung frieren, weil sie kein Heizöl bekommen. Viele wissen nicht, ob sie morgen bezahlbares Brot finden werden. Das Assad-Regime schiebt all das auf die Sanktionen. Aber stimmt das?
Die Antwort ist leider kompliziert. Ja, die Sanktionen haben Nebenwirkungen für die syrische Wirtschaft – und sie treffen die Armen am härtesten. Zugleich ist die Antwort Nein: Fehlt dem Regime der Diesel für seine Militärfahrzeuge? Wird für Assad auch nur eine Sekunde das Licht ausgehen, während die Normalbevölkerung unter Stromausfällen leidet? Werden jene auch nur einen Abend hungrig zu Bett gehen, die für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, wegen der die Sanktionen ja erlassen wurden? Nein, natürlich nicht.
Denn das Hauptproblem in Syrien ist die unfaire Verteilung von verfügbaren Ressourcen und der Krisenlast: Während wenige, mit dem Regime verbundene Menschen in Saus und Braus leben, leiden Millionen Syrerinnen unter katastrophalen Bedingungen. Trotzdem kann ich als syrische Wirtschaftswissenschaftlerin, die in Deutschland lebt, die Sanktionen in ihrer jetzigen Form nicht gutheißen. Im Arabischen sagt man sinngemäß, dass es nicht das gleiche ist, ob man Schläge bekommt oder Schläge zählt. Wir Syrerinnen im Ausland zählen die Schläge nur.
Die Sanktionen treffen die Falschen
Vor allem ist aus ökonomischer Sicht eindeutig: Die Sanktionen treffen die Falschen. Etwa weil viele internationale Banken aus Furcht vor Sanktionen einfach alle Transaktionen eingestellt haben, die irgendetwas mit Syrien zu tun haben. Das trifft auch humanitäre Hilfe. Oder weil die Sanktionen Geschäftsleute treffen, die dank der schützenden Hand des Regimes eine Monopolstellung genießen. Und wenn derjenige, der das Monopol auf Milchprodukte genießt, Probleme bekommt, dann bekommen die Syrer*innen keine bezahlbare Milch.
Nicht zuletzt dienen die Sanktionen dem Regime zur Rechtfertigung für die Privatisierung von subventionierten Gütern und staatlichen Unternehmen. So könnte man theoretisch für 200 syrische Lira subventioniertes Brot kaufen. Aber in der Praxis heißt das: Ewig Schlange stehen und am Ende oft leer ausgehen. Angeblich, weil es keinen Weizen gibt. Aber wenn man genug Geld hat, kann man natürlich anderswo Brot kaufen. Dasselbe gilt für Diesel. Staatliche Leistungen werden unter Verweis auf die Sanktionen zurückgefahren. Davon profitieren einige wenige – und der Großteil der Bevölkerung leidet.
Von Allen im Stich gelassen
Meine Bekannten in Syrien fühlen sich von Allen im Stich gelassen. Von Russland und dem Iran, die die Herrschaft des Assad-Regimes sicherstellen, aber nicht die Versorgung der syrischen Bevölkerung. Und vom Westen, der meint, mit den Syrien-Sanktionen sei jetzt getan, was zu tun ist. Genau das dürfen wir nicht hinnehmen. Millionen Menschen in Syrien brauchen Hilfe, davon allein 6 Millionen Menschen in den Landesteilen außerhalb der Kontrolle des Assad-Regimes. Über 2 Millionen von ihnen sind Binnenflüchtlinge. Warum wird nicht zumindest ihnen mehr Hilfe zuteil – und zwar am besten nicht immer nur Zelte und Lebensmittelpakete?
Wir brauchen eine sogenannte White List, die es erleichtert, humanitäre Hilfe zu liefern und die bestimmte Regionen oder besonders notleidende Gruppen von den Sanktionen ausnimmt. Denn die Sanktionen dürfen für die USA und die EU nicht zur Ausrede werden, die syrische Bevölkerung einfach alleine zu lassen.
Insbesondere das Elend der Binnenvertriebenen spitzt sich in Syrien immer weiter zu. Können Sie unserer Partnerprojekte mit einer Spende unterstützen? Vielen Dank!
Warum gibt es die von der EU und USA erlassenen Syrien-Sanktionen eigentlich – und warum braucht es sie? »Wir dürfen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht tatenlos zusehen – egal wo und von wem sie begangen werden« schreibt der syrische Menschenrechtsanwalt Anwar al Bunni in seinem Kommentar.