In Südsyrien, ausgehend von Suweida, blüht der Protest gegen das Assad-Regime mit einer vielfältigen Bewegung erneut auf. Frauen spielen eine wichtige Rolle in der Organisation der Demonstrationen. (Foto: Al-Rased

Das Verbrechen der Freiheit

Als die Revolution 2011 in Syrien begann, war unsere Autorin ein Teenager. Heute protestiert sie wieder jeden Tag. Eine ergreifende Reflektion über das zwölfjährige Ringen um Freiheit, Würde und Hoffnung in Syrien.

In Südsyrien, ausgehend von Suweida, blüht der Protest gegen das Assad-Regime mit einer vielfältigen Bewegung erneut auf. Frauen spielen eine wichtige Rolle in der Organisation der Demonstrationen. (Foto: Al-Rased

Als Kind träumte ich davon, die Weizenfelder im Nordosten, die Olivenhaine im Nordwesten und die Ebene von Hauran im Südosten zu durchstreifen. Ich wollte alle Ecken Syriens erkunden.

Meine Kindheit endete am 13. Mai 2011. Die Weizenfelder waren verbrannt, die Olivenhaine entwurzelt und Hauran zerstört. Sie endete, als die Kinder in Daraa es wagten, “Freiheit” zu rufen. Ein Wort, das wir zuerst nur einander zuflüsterten. Ein Wort, wie ein Verbrechen, das mit Verhaftung und Folter bestraft wurde. Aber auch ein Wort, das wir hoffnungsvoll an Wände malten und auf Flugblätter schrieben, die wir in den dunklen Korridoren der Schule in die Luft warfen. Noch heute höre ich das Echo der Demonstrierenden, die damals durch die Straßen meiner kleinen Stadt Suweida im Süden Syriens zogen. Damals pochte mein Herz wie wild vor Freude. Bis der erste Schmerzensschrei meine Euphorie durchriss. Ich sah einen jungen Mann, der vor Sicherheitskräften floh. Dieses Bild verfolgt mich seitdem.

Doch egal wie hoch der Preis auch heute noch ist, ich bin bereit, das Verbrechen der Freiheit zu begehen. Ich habe bisher an allen Demonstrationen teilgenommen seit dem neuerlichen Beginn des Aufstands in Suweida im August. Ich will mich für unsere Vision einsetzen, für die so viele Syrerinnen und Syrer ihr Blut gelassen haben. Wir demonstrieren jeden Tag an Dutzenden Plätzen in der Stadt. Wir beginnen im Stadtzentrum und ziehen abends mit unseren bunten und mutigen Plakaten weiter ins Umland von Suweida. Wir fördern Demokratie und Teilhabe unter den Bürgerinnen und Bürgern. Gemeinsam sind wir so laut, dass unsere Stimme in ganz Syrien zu hören ist. 

Ich werde oft gefragt, warum ich demonstriere. Die Frage irritiert mich. Ist die Antwort doch so offensichtlich. Ich möchte in Freiheit leben. Das gesamte syrische Volk will frei sein. Wir möchten nicht vertrieben und getötet werden oder unsere Familie zurücklassen, wenn wir fliehen. Wir wollen einen friedlichen Machtwechsel, wie es in jedem demokratischen Land üblich ist. Wir wollen ein würdevolles Leben und wissen, was mit unseren verschwundenen Brüdern und Schwestern passiert ist.

Unsere Revolution ist nun zwölf Jahre alt. Sie drückt sich nicht nur durch ein Lied, ein Flüchtlingsdokument oder die Schreckensbilder des Kriegs aus. Unsere Revolution geht tiefer. Sie ist unsere Würde, unser verbrannter Weizen und unsere entwurzelten Olivenbäume. Sie steckt in unserem Land, unseren Häusern und unseren verwehrten Rechten. Sie schreibt die Geschichte unserer Region, die von Blut befleckt ist.


Zur Autorin:

Raya Sibeye Sibeye ist Anwältin, Menschenrechtsaktivistin und leitet eine Organisation in Suweida. Außerdem ist sie Mitglied im politischen Büro einer Jugendbewegung. Aus Sicherheitsgründen schreibt sie unter Pseudonym.