Im April haben US-Spezialeinheiten den damaligen IS-Anführer Abu Ibrahim al-Qurayshi und seinen offiziellen Sprecher getötet. Die „Rache für die beiden Scheichs“, die der aktuelle IS-Sprecher Abu Omar al-Muhajir ausrief, ließ nicht lange auf sich warten: Mindestens 20 Anschläge gab es seit Ende April vor allem in Deir Al Zoor, aber auch in Gebieten, die normalerweise von der IS-Gewalt verschont bleiben, wie Manbij, Raqqa und die Region Jazeera. Die Bilanz: In nur 10 Tagen haben die Islamisten im Nordosten Syriens mehr bestätigte Anschläge im Guerillastil verübt als im Februar und März 2022 zusammen. Seit Beginn des Jahres gab es über 82 solcher Angriffe, bei denen 63 Zivilist*innen und SDF-Kämpfer*innen getötet wurden.
Schläferzellen erwachen
Die islamistische Miliz gilt militärisch als besiegt – der IS kontrollierte einst ein Gebiet in Syrien und Irak, das der Größe Großbritanniens entsprach, hat aber inzwischen sein Territorium verloren. Seitdem hat er sich mit Schläferzellen, die über Städte und Dörfer verstreut sind, neuformiert. Allein südlich von Hassaka gibt es noch etliche Dörfer, die damals komplett unter der Kontrolle des IS standen und im Anti-Terror-Kampf der US-geführten Koalition komplett zerstört wurden. Die Orte wurden nicht wiederaufgebaut und dienen den Schläferzellen jetzt als Versteck und Unterschlupf.
Kampf ums Gefängnis in Hassaka wirft Schatten voraus
Bereits im Januar demonstrierte der IS, dass er keine Ruhe geben wird und verübte einen der schwersten Angriffe des IS in Syrien seit Jahren. Beim Versuch Tausende seiner inhaftierten Kämpfer aus einem Gefängnis in Hassaka zu befreien, wurden neben 247 Dschihadisten auch Zivilist*innen getötet und Dutzende zum Teil schwer verletzt. 45.000 Menschen flohen vor den rund eine Woche andauernden Kämpfen aus der Region.
In einer Erklärung vom 17. April kündigte der IS weitere größere Angriffe an. Im Fokus steht vor allem das Lager al-Hol im Nordosten Syriens – der IS fordert die Freilassung der Gefangenen. Bereits im März hatte es einen Angriff auf das Camp gegeben. In dem Flüchtlingslager, das unter der Kontrolle der SDF steht, sitzen mehr als 60.000 Menschen fest – über 50.000 von ihnen haben direkte IS-Verbindungen, darunter sind auch einige Deutsche. Einige deutsche IS-Frauen sind bereits nach Deutschland geholt worden, die deutschen IS-Kämpfer zurückzuholen, plant die Bundesregierung derzeit nicht.
Der rote Teppich für den IS
Der Zeitpunkt wieder verstärkt Präsenz zu zeigen, ist strategisch bewusst gewählt – die internationale Aufmerksamkeit richtet sich derzeit vor allem auf den Krieg in der Ukraine. Zudem ist die Lage vor Ort bereits sehr fragil – das geopolitische Vakuum spielt dem IS in die Hände. Verschlimmert würde diese Situation durch eine erneute militärische Invasion der Türkei. Der als „Anti-Terror-Kampf“ geframte Angriffskrieg würde die Region weiter massiv destabilisieren. Die kurdisch-dominierte Selbstverwaltung, die zusammen mit den USA gegen den IS gekämpft hat, muss sich dann gegen die türkische Invasion wehren, während Hunderttausende Menschen im Kriegsgeschehen auf der Flucht sind. Für den IS ist der türkische Angriff auf die kurdische Selbstverwaltung gleichbedeutend mit dem Ausrollen eines roten Teppichs: Denn da wo staatliche Autorität und Strukturen fehlen, hat der IS leichtes Spiel. Das hätte schwerwiegende und zumeist auch tödliche Folgen für die Bevölkerung in der Region.
„Die Angriffe haben immense Auswirkung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir arbeiten jahrelang daran, diesen herzustellen. Im letzten Jahr haben wir etliche Diskussionsrunden zu Minderheitenrechten, Religion und unsere Zukunftswünsche gemacht – mit großem Erfolg. Dann gibt es einen IS-Anschlag, der unglaublich viel Angst und vor allem Misstrauen sät. Das schadet uns und der Gesellschaft massiv. Wir fangen dann jedes Mal wieder bei null an, weil das mühsam aufgebaute Vertrauen zerstört ist. Viele Menschen entscheiden sich zu gehen – das ist jedes Mal als würde ein Teil von mir selbst gehen. Es heißt, dass jemand aufgegeben hat.”
Diyar, Projektleiter im PÊL Civil Waves Zentrum in Qamishli