Für unsere Partner*innen in Nordsyrien ist die Entscheidung des UN-Sicherheitsrat zunächst eine Erleichterung. Wie Hunderttausende andere in der Region mussten sie über Monate lang fürchten, dass ein Veto Russlands auch den Grenzübergang Bab al Hawa für UN-Hilfslieferungen schließt. Dies hätte dazu geführt, dass Hunger und Not noch weiter um sich gegriffen hätten. Jetzt ist zumindest gesichert, dass die UN-Lastwagen mit Hilfsgütern weiter die türkisch-syrische Grenze passieren können – zunächst für sechs Monate, die vermutlich um weitere sechs Monate verlängert werden.
„Wir hier sind froh über die Hilfen, die über die Grenze kommen, denn die Situation hier mit hunderttausenden Vertriebenen ist desaströs. Die Entscheidung gibt uns außerdem etwas Hoffnung, dass wir zumindest nicht erneut fliehen müssen.“
Ahmad aus Azaz
Hintergrund der Cross-Border-Hilfen
Hintergrund der Entscheidung des UN-Sicherheitsrat ist eine UN-Resolution von 2014, die es den Vereinten Nationen erlaubt, oppositionell kontrollierte Gebiete Syriens über die syrische Grenze aus den Nachbarstaaten heraus zu versorgen – auch wenn das Assad-Regime dem nicht zustimmt. Da das Aushungern von Zivilist*innen zum Standardrepertoire des Regimes gehört, ist diese Resolution weiter bitter nötig: Aktuell etwa belagert das Assad-Regime einen Stadtteil Daraas.
Doch Russland hat als Verbündeter Assads dafür gesorgt, dass das Cross-Border-Mandat der UN immer weiter eingeschränkt wurde: Statt ursprünglich vier Grenzübergänge durften die UN zuletzt nur noch Bab al Hawa nutzen, um Hilfe nach Nordsyrien zu bringen. Das schränkt die Hilfe stark ein. (Lesen Sie hier mehr zum Hintergrund)
Kompromiss – oder eher Erpressung?
Geht es nach Putin bzw. seinem Schützling Assad, soll alle humanitäre Hilfe über Damaskus fließen, damit das Regime wieder Kontrolle darüber hat, wer Hilfe erhält – und wer nicht. Der aktuelle Kompromiss des Sicherheitsrats verhindert zwar das Szenario, dass Assad Nordsyrien aushungern kann, er hat aber viele gewaltige Tücken.
Zunächst den, dass Russland mit der Drohung, die Hilfslieferungen komplett zu unterbinden, eine politische Erpressung gelungen ist.
„Wieder konnte Russlands die Frage dringend benötigter humanitärer Hilfen instrumentalisieren, um politische Gewinne einzustreichen“
Huda Khaity, Idlib
Denn die Resolution wurde durch Formulierungen erweitert, die die Ausweitung von UN-Hilfen für Gebiete unter Regimekontrolle vorsehen. »Man hat sich nun auf eine Ausweitung der humanitären Hilfe hin zu sogenannten „early recovery“-Maßnahmen geeinigt«, sagt Huda Khaity. »Das bedeutet konkret, dass es zu infrastruktureller Unterstützung, also etwa im Bereich Wasser- und Stromversorgung, auch in den Regime-Gebieten kommen darf.«
Für Huda Khaity ist das politisch betrachtet eine problematische Entwicklung:
»Wiederaufbaumaßnahmen, beziehungsweise das Geld für ihre Finanzierung, werden letztendlich dem Regime oder regime-loyalen Kräften zu Gute kommen und es weiter konsolidieren.«
Huda Khaity, Idlib
Die Tücken des Wiederaufbaus
Viele Staaten hatten Putins Forderungen nach Wiederaufbauhilfen für Syrien unter Assad bislang eine klare Absage erteilt. Denn der Großteil der Zerstörungen in Syrien geht auf des Konto des Assad-Regimes und der russischen Luftwaffe, die durch ihre Bombardierungen erfolgreich die unliebsamen Bevölkerungsteile vertrieben haben.
Solange diese Kriegsverbrechen ungeahndet bleiben, die vertriebene Bevölkerung nicht zurückkehren kann und sich das mafiös geprägte Assad-Regime an der Macht hält, entsprechen Wiederaufbauhilfen einer Art Belohnung dieser Politik.
»In Damaskus sitzt weiterhin ein Regime, das Rückkehr im großen Stil unmöglich macht, weil es seine Bürger mit Landgesetzen enteignet oder Rückkehrer und Andersdenkende bedroht, foltert oder verschwinden lässt,« betont auch Carsten Wieland, ehemaliger UN-Berater für Syrien: »Es hat sich überhaupt nichts geändert in den vergangenen Jahren. Und dann zu sagen: Wir drücken jetzt alle Augen zu und machen Wiederaufbau gratis und bedingungslos, das gibt einen Anreiz für alle zukünftigen Diktatoren, so zu handeln, wie es Assad getan hat. Und das hilft den Leidenden in der Zukunft nicht.«
Außerdem könnte diese Ausweitung der Hilfsbestimmungen dazu beitragen, dass die Effekte der Sanktionen des Caesar-Act auf das Regime abgeschwächt werden. »Das könnte dafür sorgen, dass der Druck auf das Regime sinkt, etwa die politischen Gefangenen freizulassen«, befürchtet Huda Kaithy.
Nur ein Grenzübergang – und erstmal nur sechs Monate
Die aktuelle Regelung sieht vor, dass weiterhin nur ein Grenzübergang offen bleibt – und das nur für zunächst sechs Monate. Damit im Anschluss daran Russland weitere sechs Monate grenzüberschreitende Hilfslieferungen ermöglicht, muss die UN bis dahin viele Informationen zu ihren Hilfsoperationen liefern sowie prüfen, inwieweit die Cross-Border-Lieferungen durch „Cross-Line-Lieferungen“ ersetzt werden können.
Assad und Putin schaffen sich damit eine Gelegenheit, schon in sechs Monaten wieder zu insistieren, dass die UN-Hilfsgüter aus Damaskus über die verschiedenen militärischen Linien nach Nordsyrien transportiert werden müssen (um das in der Praxis dann sabotieren zu können). Insofern bereitet der Kompromiss zur Verlängerung der Cross-Border-Lieferung gewissermaßen schon deren Ende vor.
Amnesty International kritisiert Russlands Verhalten im Sicherheitsrat scharf:
„Dieser Kompromiss ist mal wieder ein Beispiel dafür, wie Russland die humanitäre Not der Syrer*innen ignoriert und stattdessen man wieder politische Spielchen mit den Leben von Millionen Menschen spielt“
Sherine Tadros von Amnesty International.
Ablenkung vom eigentlichen Problem
Einige der Betroffenen Syrer*innen sehen die Debatte um die Cross-Border-Hilfen nicht zuletzt deshalb kritisch, weil es am Ende nicht um ihre Rechte, sondern allein um ihr Überleben geht:
»So sehr wie wir die Hilfen auch schätzen – eigentlich wünschen wir uns eine grundlegende Lösung. Je länger die ausbleibt, um so mehr soziale, kulturelle, ökonomische und gesundheitliche Probleme entstehen für alle Betroffenen. Unser Problem ist ja nicht nur, ob wir etwas zu Essen haben. Unser Problem ist, dass wir vertrieben wurden und dass wir nicht in unsere Städte zurückkehren können, solange das Regime in dieser Form an der Macht ist.«
Ahmad aus Azaz
Adopt a Revolution unterstützt syrienweit zwölf Projekte aus der Zivilgesellschaft. Viele von ihnen engagieren sich auch, um selbstorganisiert die humanitäre Notlage zu lindern. Können Sie diese Arbeit mit Ihrer Spende unterstützen?