Kurz erklärt: UN-Hilfe über Grenzen hinweg

Derzeit geht es im UN-Sicherheitsrat darum, ob Hilfslieferungen aus der Türkei nach Syrien gebracht werden dürfen. Russland droht mit einem Veto. Zugleich hängen 4 Millionen Menschen von einem einzigen Grenzübergang ab. Wir erklären Hintergründe.

Noch bis 10. Juli dürfen UN-Organisationen humanitäre Hilfe nach Nordsyrien liefern – dann läuft die Genehmigung des UN-Sicherheitsrats dafür aus. Derzeit versorgen UN-Organisationen rund 4 Millionen Menschen mit 1.000 Lastwagen humanitärer Hilfe pro Monat. Der UN-Nothilfekoordinator Mark Cutts warnt vor einer Katastrophe, sollte der Zugang für humanitäre Hilfe nicht verlängert werden. Trotzdem hat Russland bereits gedroht, per Veto den Übergang Bab al-Hawa für UN-Organisationen zu schließen. Wir erklären die wichtigsten Hintergründe.

Warum wird UN-Hilfe über die Grenze gebracht?

Seit Beginn des Aufstands in Syrien vor zehn Jahren hat das Assad-Regime die Ablehnung von humanitärer Hilfe immer wieder eingesetzt, um der Opposition zu schaden. Durch Belagerungen und Blockaden hat das Regime buchstäblich Menschen verhungern lassen. Deshalb hat der UN-Sicherheitsrat 2014 UN-Organisationen erlaubt, Hilfe auch ohne Genehmigung des Regimes direkt an Bedürftige zu liefern – und dafür vier Grenzübergänge vorgesehen. Seit Dezember 2019 haben Vetos von Russland und China dafür gesorgt, dass drei Übergänge für UN-Hilfe blockiert sind. Das Mandat für den letzten Übergang in Bab al-Hawa läuft demnächst aus.

Was bezweckt Russland mit seiner Drohung, den Übergang zu schließen?

Russland ist im Syrien-Konflikt ein enger Verbündeter des Assad-Regimes. Moskau argumentiert, dass UN-Hilfe über Damaskus verteilt werden müssen, um die Souveränität Syriens zu sichern. Statt über die Grenze aus der Türkei müsste UN-Hilfe über die Fronten hinweg aus Gebieten des Assad-Regimes verteilt werden. Das würde dem Regime die Möglichkeit geben, wieder Hunger als Kriegswaffe einzusetzen und die Menschen in Nordsyrien einfach auszuhungern. Es gibt im übrigen durchaus Kritik an den UN, weil sie bei dieser Politik mitgemacht hätten.

Wer wäre von den Grenzschließungen betroffen?

Zunächst einmal: Die Bedürftigen selbst. Denn zwar gibt es neben dem UN-Übergang weitere, kommerziell genutzte Übergänge aus der Türkei, die nach Syrien führen. Da aber in Nordsyrien rund 90% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, rund 2,7 Millionen Menschen allein in der Region Idlib als Vertriebene aus anderen Landesteilen gelten und in Folge von Angriffen zahlreiche Krankenhäuser zerstört sind, fehlt sowohl die humanitäre Infrastruktur als auch bei den Bedürftigen das Geld, um sich selbst versorgen zu können.

Lage von Flüchtlingslagern in Nordwest-Syrien nach Auswertung von UN OCHA.

Aber auch internationale NGOs, die in Nordsyrien arbeiten, wären betroffen. Denn für eine effiziente und verlässliche Lieferung von Hilfsgütern, sind viel von ihnen auf die Zusammenarbeit mit der UN angewiesen. Und schließlich auch Regierungen westlicher Staaten. Diese haben sich im Lauf der letzten Jahre häufig nur halb engagiert gezeigt bei der Lösung des Konflikts in Syrien – und damit Russland den Raum gegeben, als dominanter Machtfaktor aufzutreten. Es geht bei der von westlichen Regierungen geforderten Lieferung von UN-Hilfe also auch um die Glaubwürdigkeit westlicher Politik gegenüber Syrien.

Was passiert, wenn der letzte Grenzübergang für die UN geschlossen wird?

Wenn wir in die Camps gehen, dann laden die Frauen uns in die Zelte ein und erzählen. Zum Beispiel, dass die oft dreckigen und nicht abschließbaren Sanitäranlagen für Frauen den Alltag zur Hölle machen, insbesondere während ihrer Periode.”
– Souad al-Aswad leistet feministische Nothilfe in Flüchtlingslagern

Wenn die humanitäre UN-Hilfe für Nordsyrien ausbleibt, droht ein Zusammenbruch der Versorgung von rund vier Millionen Menschen. Ärzte ohne Grenzen geht davon aus, dass eine Unterbrechung der Hilfslieferungen unvermeidbar wäre. Während Russland im UN-Sicherheitsrat argumentiert, Hilfe könnte auch über Damaskus geliefert werden, so gab es bislang keinen einzigen Transport, der die Region Idlib auf diesem Wege erreicht hätte. Ein Zusammenbruch der Lieferketten hätte katastrophale Folgen, Millionen von Menschenleben stünden auf dem Spiel.

Denn durch Kriegsfolgen und den Zusammenbruch der syrischen Wirtschaft sind die Preise für Nahrungsmittel explodiert – und allein im ersten Halbjahr 2020 um 50% gestiegen, die wie Welthungerhilfe berichtet. Schon jetzt sind in Syrien 12 Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfe angewiesen, eine Hungerkatastrophe wäre praktisch unvermeidlich. Aber auch das Gesundheitssystem ist durch gezielte Angriffe Russlands und des Assad-Regimes schwer beschädigt, rund 70% aller Mitarbeitenden im Gesundheitswesen haben das Land seit 2011 verlassen. Fehlt den verbleibenden Mitarbeiter*innen dann auch noch das Material, werden Seuchen und eine Verbreitung der Covid-19-Pandemie zum Hunger hinzukommen.

Es scheint unvermeidlich, dass viele der Verzweifelten in Nordsyrien dann versuchen würden, über die abgeriegelte Grenze in die Türkei und weiter nach Europa zu kommen – mit katastrophalen Szenen an den Grenzen.

Deutschland ist kein Mitglied im UN-Sicherheitsrat, was kann die Bundesregierung für die Versorgung der Menschen in Nordsyrien tun?

“Wir sind frustriert, dass die Aufmerksamkeit der USA und des Westens auf humanitäre Hilfe beschränkt bleibt, statt den politischen Prozess wieder in Gang zu bringen!”
Raed Razouq, Zaitoun Zeitung

Zunächst braucht es internationalen Druck, um der russischen Regierung die Konsequenzen einer Blockade von Hilfslieferungen nach Syrien zu verdeutlichen und zu einer Zustimmung zum UN-Mandat zu bewegen. Innerhalb der Europäischen Union hat die Bundesregierung noch einen relativ guten Zugang zu Russland – und mit der Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 tendenziell auch ein Druckmittel in der Hand.

Um Russland das Druckmittel des Vetos im Sicherheitsrat zu nehmen, müssen die Geberländer alternative Zugangswegen für Hilfe nach Syrien eröffnen. So verfügt die Bundesregierung etwa mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) über eine Fachgesellschaft, die solche Aufgaben auch ohne UN-Mandat übernehmen könnte. Die Versorgung von Millionen von Menschen darf nicht an der angeblichen Souveränität Syriens scheitern – denn eine Diktatur vom Schlage des Assad-Regimes stellt keine legitime Regierung dar.

Partner*innen von Adopt a Revolution weisen zudem darauf hin, dass die gesamte Diskussion um humanitäre Hilfe für Syrien nicht davon ablenken darf, dass es eigentlich eine Lösung für den politischen Konflikt braucht. Die UN-Gespräche für eine neue Verfassung für Syrien können quasi als gescheitert gelten. Aber anders als etwa im Fall Libyens hat Berlin auch noch nicht zu einer internationalen Syrienkonferenz eingeladen, um den Konflikt zu beenden. Warum eigentlich nicht?

Adopt a Revolution unterstützt syrienweit zwölf Projekte aus der Zivilgesellschaft. Viele von ihnen engagieren sich auch, um selbstorganisiert die humanitäre Notlage zu lindern. Können Sie diese Arbeit mit Ihrer Spende unterstützen?