Michael Lüders auf der Leipziger Buchmesse. Foto: Amrei-Marie/CC BY-SA 4.0

Die Methode Lüders

Seit vielen Jahren feiert der Politikwissenschaftler und Wirtschaftsberater Michael Lüders als “Nahostexperte” Riesenerfolge. Ein Bestseller folgt dem nächsten. Doch seine Texte basieren auf Fehlinformationen, Auslassungen und Zuspitzungen.

Michael Lüders auf der Leipziger Buchmesse. Foto: Amrei-Marie/CC BY-SA 4.0

Michael Lüders kennt sein Publikum und weiß, was sich verkauft: Hunderttausendfach bringt er seine Werke über den Nahen Osten und Syrien an den Leser. Für Sachbücher sind das Megabestseller. Wie schafft man das? Nicht mit Abhandlungen über die komplexe Soziologie des Syrienkonflikts. Der Nahe Osten verkauft sich in Deutschland, indem man die Vorurteile des Publikums bestätigt. Am besten liefert man dem Leser das Gefühl, der tumben breiten Masse überlegen zu sein. Dieses Gefühl erzeugt sich am besten, das weiß auch Michael Lüders, wenn man sich als Klartexterzähler kostümiert, der auf vermeintlich von den Mainstreammedien verschwiegene Hintergründe hinweist. Sein jüngst im IPG-Journal der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienener Artikel ist für diese Methode exemplarisch. Deshalb wollen wir ihn hier einmal zum Anlass nehmen, Lüders’ Arbeitsweise darzulegen (weite Teile seines Artikels beruhen auf seinem Syrien-Bestseller, der all diese Fehler und noch viele weitere enthält).

Zu den Vorurteilen weiter Teile der Öffentlichkeit gehört etwa, dass es den Vereinigten Staaten im Nahen Osten irgendwie stets um Öl und Gas ginge. Also muss auch der Syrienkonflikt etwas damit zu tun haben. Und so liefert Michael Lüders ihnen ein unausgegorenes türkisch-katarisches Pipelineprojekt und behauptet, dessen Ablehnung durch Assad im Jahr 2009 sei der Kriegsgrund für die Vereinigten Staaten und die Golfmonarchien gewesen. Doch das ist falsch. Noch Mitte November 2009 erwähnte al-Thawra, die Zeitung von Assads Baath-Partei, das Projekt positiv. Von einer Ablehnung des Projekts durch Assad hingegen findet sich bis lange nach Kriegsausbruch kein einziger Hinweis. Stattdessen war man 2010 (laut Lüders wurde das Projekt bereits ein Jahr zuvor wegen Assad hinfällig) noch voll mit internationalen Verhandlungen beschäftigt. Von Problemen in Syrien: Kein Wort. Stattdessen galt als größtes Hindernis Saudi-Arabien, das damals wie heute mit Katar im Konflikt stand und bereits andere katarische Pipeline-Pläne nach Bahrain und Kuwait zunichte gemacht hatte.

Orientalismus der übelsten Sorte

Und ausgerechnet Michael Lüders wirft nun anderen ein „ideologisiertes Narrativ“ vor, dass sich auch nicht um die „Faktenlage vor Ort“ schere. Ein weiteres seiner Beispiele dafür: Dass sich „die religiösen Minderheiten (…) zu keinem Zeitpunkt am Aufstand gegen Damaskus beteiligt“ hätten. Lüders spricht von „den religiösen Minderheiten“ als gäbe es da eine Zentralinstanz, die die politische Haltung ihrer Mitglieder festlegt. Angehörige von Minderheiten haben sich aber zu jedem Zeitpunkt der Herrschaft Assads gegen diesen aufgelehnt. Als Hafiz al-Assad 1970 die Macht ergriff, streikten ganze alawitische Ortschaften. Während der 70er und 80er dominierten Alawiten dann wichtige säkulare Oppositionsparteien und wurden dafür erbarmungslos verfolgt. Im Damaszener Frühling Anfang der 2000er waren die Unterzeichner zentraler regimekritischer Aufrufe teils zu einem Drittel alawitischer Herkunft (bei einem Bevölkerungsanteil von nur zwölf Prozent) und auch 2011 waren wieder Alawiten in durchaus relevanter Zahl dabei. Ja, die große Mehrheit von ihnen ist gegen die Opposition. Die Gründe dafür sind vielschichtig und haben auch mit den perfiden Strategien der Machterhaltung des Regimes zu tun. Religiöse Minderheiten jedoch als monolithische Blöcke zu malen, um so die eigenen Argumente zu schärfen, ist Orientalismus der übelsten Sorte. Vor allem aber verstellt es einem jede realistische Analyse des Konflikts, die Lüders ja vordergründig einfordert, wenn man in diesem Maße simplifiziert.

An anderer Stelle notiert er, dass der Aufstand laut einem Papier des US-Geheimdiensts DIA im Sommer 2012 von extremistischen Gruppen dominiert wurde. Das ist im Hinblick auf den bewaffneten Aufstand nicht falsch. Lüders’ Schluss aus dem Dokument ist aber, dass es „dem westlichen Narrativ, der von Politik und Medien als richtig empfundenen Erzählung über den Syrienkrieg“ widerspreche, „demzufolge sich das syrische Volk in einem verzweifelten Freiheitskampf gegen seine Unterdrücker erhoben“ habe. Doch das eine widerspricht dem anderen ja gar nicht. Lüders klammert bloß anderthalb Jahre innensyrischer Entwicklungen völlig aus, obwohl er sie kurz zuvor noch angerissen hat: Weitgehend friedliche Proteste werden ab Frühjahr 2011 niedergeschossen, es gründen sich oppositionelle Brigaden, darunter islamistische, aber auch nationalistische. Letztere erhalten wenig ausländische Unterstützung, die radikaleren aber schon und zwar durch potente pro-dschihadistische Fundraiser-Netzwerke in den Golfstaaten (die aufgrund ideologischer Differenzen teils sich bekriegende Milizen unterstützen). Letztlich können diese radikalen die moderateren Gruppen weitgehend kaltstellen und so ab 2012 den Ton angeben. Für diese Entwicklung spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, dass sowohl Assad als auch Teile der Opposition der später so verheerenden Konfessionalisierung des Konflikts Vorschub leisteten, weil sie glaubten von ihr zu profitieren.

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Die USA waren in Syrien 2011 weitgehend abwesend

Nichts davon wird von dem DIA-Lagebericht in Frage gestellt. Ganz nebenbei ignoriert Lüders auch für eine nüchterne geopolitische Analyse wichtige Aspekte – so kann man vortrefflich darüber diskutieren, wie wichtig Syrien Washington überhaupt war. Barack Obama agierte zögerlich und ganz sicher nicht wie jemand, der um jeden Preis einen „Regimewechsel“ anstrebte: Erst 2013 nickte er die von der CIA im Sommer 2012 vorgeschlagene Operation zur Bewaffnung syrischer Aufständischer ab. Das heißt nicht, dass man nicht bereits zuvor fragwürdige Umtriebe der eigenen Alliierten unterstützte – aber alles in allem war die USA während des so entscheidenden ersten Jahres weitgehend abwesend. Was man Washington zu Recht vorwerfen kann, ist, dass sie den Syrienkrieg mit ihrer unausgegorenen Strategie verlängert haben – Lüders’ Fokus auf die USA als vermeintlichen Verursacher des Desasters aber verschleiert die Verantwortung des syrischen Regimes.

Ein anderes Beispiel für Lüders’ Inkohärenz: Die Zivilgesellschaft, die der Westen in Syrien als Hoffnungsträger aufgebaut habe, sei „in halbfeudalen Staaten nur in Ansätzen“ vorhanden. Entsprechend tauge sie nicht als Hoffnungsträger. Davon abgesehen, dass die syrische Zivilgesellschaft in den letzten Jahren schier Übermenschliches vollbracht hat, stimmt es, dass sie nur in Ansätzen vorhanden ist und immerhin erkennt Lüders, dass dafür das Regime verantwortlich ist. Denn das hat über vier Jahrzehnte lang jede zivilgesellschaftliche Regung erstickt. Aber worauf will Lüders nun hinaus? Soll Assad, weil das so ist, für all die gefolterten und ermordeten Aktivisten belohnt werden, indem man ihn an der Macht belässt?

Inszenierte Nüchternheit

Michael Lüders also inszeniert sich nun als nüchterner Analyst und appelliert für eine vermeintlich realistischere Perspektive, die die Geopolitik stärker in den Fokus nimmt. „Moralische Emphase“ könne die „politische Analyse“ nicht ersetzen, schreibt Lüders. Assad sei zwar ein Gewaltherrscher, von denen gebe es aber ja im Nahen Osten viele. „Regimewechsel oder weitreichende Sanktionen“ würden aber nur dort „propagiert“, wo „der jeweilige Herrscher nicht pro-westlich ist“. Nun wird absolut niemand außer den Verantwortlichen bestreiten wollen, dass westliche Außenpolitik oft bigott ist. Aber was ist Lüders Schluss daraus? Weil Berlin und Washington mit ägyptischen Generälen und saudischen Prinzen kuscheln, soll man ebenso auch mit Assad verfahren? Davon abgesehen stellt er hier eine Äquidistanz her, wo keine besteht. Assad ist nicht nur einer unter vielen, denn kein anderer arabischer Diktator hat in den letzten Jahren so viele Menschen zu Tode foltern und exekutieren lassen. Kein anderer seit Saddam ist für den Tod so vieler Zivilisten verantwortlich und keinen anderen macht die OPCW für den Einsatz von Sarin verantwortlich.

Das alles ist nicht einmal mehr Schlamperei. Das ist reine Propaganda.
Sylke Tempel über Michael Lüders

Michael Lüders aber will genau darauf hinaus. Er will, dass deutsche Außenpolitiker Geopolitik ohne “moralische Emphase“ machen. Dass sie keinen Unterschied zwischen Diktaturen und Demokratien machen. Es spricht hier nicht mehr der Politikwissenschaftler Lüders, sondern der Wirtschaftsberater Lüders. Doch wenn es in der Politik nicht um Menschen geht, um was dann? Die Dividende der Siemens-Aktionäre? Sähe der Nahe Osten dann besser aus? Was die „politische Analyse“ betrifft, die Lüders einfordert, so sollten länderspezifische soziale, politische und historische Dynamiken noch viel genauer in den Blick genommen werden. Das bedeutet nicht, die geopolitische Gemengelage zu vergessen. Aber bisweilen verstellt einem diese auch den Blick auf die Realität. Essentiell ist es jedenfalls, mit Fakten zu operieren. Die Methode Lüders aber, hat die kluge Sylke Tempel längst auf den Punkt gebracht: „Das alles ist nicht einmal mehr Schlamperei. Das ist reine Propaganda.“ Stellt sich nur die Frage, warum auch seriöse Medien und Verlage dem weiterhin ein Forum geben.

Jan-Niklas Kniewel