„Dónde están?“ – Wo sind sie?

Das Verschwindenlassen gehört zu den perfidesten Methoden, die Diktaturen anwenden, um den Widerstand ihrer politischen Gegner zu brechen. Die meisten von ihnen tauchen nie wieder lebend auf. Sie werden verhaftet, gefoltert, ermordet und ihre Leichen an geheimen Orten verscharrt. Es handelt sich nicht um geheime Morde; sie werden begangen mit der Absicht, sie zu vertuschen und ihre juristische Aufklärung zu erschweren oder gar zu verhindern. Denn mit dem Verschwinden der Körper verschwinden auch die Beweise.

Das Verschwindenlassen gilt seit 2002 im Internationalen Recht als Verbrechen, dennoch wird es weiterhin praktiziert. Wie viele Menschen diesem Terror zum Opfer gefallen sind, wird wohl nie bekannt werden. Das Schicksal der meisten auch nicht. Für die Hinterbliebenen ein unerträglicher Zustand, weil er keine Trauer und keinen Abschied zulässt.Gedanken zum Internationalen Tag der Verschwundenen von Gabriele Wojtiniak

Ich war siebzehn, als wundersame Nachrichten zu uns drangen: In Chile, für uns DDR-Bürger ein Land irgendwo hinterm Horizont, am anderen Ende der Welt, war Revolution, wie wir sie uns immer vorgestellt hatten, nahezu romantisch, mit Gitarren und Poesie. Eine Revolution, die keine Waffen brauchte, weil sie einen demokratischen Sozialismus wagen wollte. Auf mich übte dies alles eine unerklärliche Anziehungskraft aus. Wäre da nicht eine Mauer gewesen, die mein Land vom Rest der Welt trennte, wäre ich wahrscheinlich losgegangen, um dort mitzumachen.

Nur drei Jahre später kamen die Nachrichten vom Ende dieses Traums: Flugzeuge über dem Präsidentenpalast, Militärs auf den Straßen, Tote in den Flüssen; mit Entsetzen sahen wir die Bilder von Verhaftungen und Misshandlungen und wie die Menschen ins Nationalstadion von Santiago getrieben wurden, aus dem viele nicht zurückkamen. Der Präsident, Salvador Allende, gehörte zu den ersten Opfern dieser Gewaltorgie; auf seinen Stuhl setzte sich ein General. Die Militärjunta unter Augusto Pinochet sollte siebzehn Jahre lang regieren und das dunkelste Kapitel der chilenischen Geschichte schreiben.

Das Ende vom Traum des demokratischen Sozialismus

Ich war 21, Studentin, eine von denen, die die Welt verbessern wollten. Ich hatte mich in Chile verliebt und empfand eine Traurigkeit, für die mich viele meiner Mitmenschen belächelten. Ich las Gedichte von Pablo Neruda und hörte Victor Jaras Lieder.

Bilder von Verschwundenen im Parq Por La Paz in Santiago de Chile. Foto (CC): www.villagrimaldicorp.cl

Als ein paar Monate später die ersten Chilenen ins DDR-Exil kamen, glaubte ich, meine Bestimmung gefunden zu haben: Ich würde mich engagieren für friedliche Revolutionen, für Freiheit und Demokratie, für Menschenrechte, gegen Diktaturen, gegen politischen Terror. Und das tat ich dann auch.

Über Syrien wusste ich damals nicht sehr viel, und was ich hier und da erfuhr, passte nicht zur offiziellen Lesart. Ich traf einen syrischen Studenten, von denen es zu dieser Zeit eine ganze Menge in der DDR gab, der erzählte mir vom Terror gegen die verbotene Kommunistische Aktionspartei. Ich hörte mit offenem Mund zu und gab meine Erkenntnisse später in einer Versammlung zum Besten, woraufhin mir mit der Bemerkung, aus welchen Quellen ich dies wohl habe, der Mund verboten wurde.

Erst zwanzig Jahre später reiste ich zum ersten Mal nach Syrien zu Recherchen für einen Dokumentarfilm. Über Land, per Zug und Bus durch die Türkei bis nach Aleppo.

Kommentar: Syriens Verschwundene nicht vergessen!

Als ich dann ein bisschen hilflos am Fahrkartenschalter des Bahnhofs stand, weil der freundliche Mann dahinter kein Englisch sprach, kam mir ein anderer freundlicher Mann zu Hilfe. Wir fuhren zusammen nach Damaskus, wo er an der Universität arbeitete. Als ich zwei Jahre später wieder in Aleppo war, traf ich ihn wieder. Wir saßen auf der Terrasse des Baron-Hotels und sprachen über Gott und die Welt. Ich wusste, dass Syriens Welt nicht in Ordnung war, und er flüsterte es mir hinter vorgehaltener Hand zu. Ich habe keine Ahnung, ob er später, als die Revolution begann, mit seinen Studenten auf die Straße ging. Vielleicht lehrt er noch heute an der Universität, vielleicht lebt er nicht mehr, vielleicht ist er verschwunden.

Ich muss oft an die Menschen denken, die mir in Syrien begegnet sind; mit denen ich offene, vorsichtige, mutige und zornige Gespräche führte. An Ahmad, der mich immer zum Tee einlud, wenn ich an seinem Laden vorbeikam. An den Kellner, der mir an meinem Geburtstag eine Rose schenkte. Rosen gäbe es überall, sagte er, aber die von Damaskus seien die schönsten auf der ganzen Welt. Von dieser Welt wurden Syrien und seine junge Revolution im Stich gelassen.

Immer wieder neue Bilder auf dem Friedhof in Santiago de Chile

Seit es in Chile keine Diktatur mehr gibt, bin ich so oft dort gewesen, dass man mich bei der Einreise schon lächelnd wieder-willkommen hieß. Das Land und die Geschichten der Menschen sind Teil meines Lebens geworden. Die von gestern und die von heute, Geschichten von Neubeginn und noch immer nicht beantworteten Fragen, die auch meine geblieben sind.

Grabnischen für “Verschwundene” im Cementerio General, Chiles Nationalfriedhof

Immer, wenn ich nach Santiago de Chile komme, besuche ich den Cementerio General, Chiles Nationalfriedhof. Ich gehe zu Allendes Grab und zum Mahnmal für die Opfer der Militärdiktatur Pinochets, die toten und die bis heute vermissten. Dort gibt es eine Mauer mit Grabnischen, die den sterblichen Überresten der Verschwundenen vorbehalten sind – falls sie denn jemals auftauchen sollten.

Der Vater eines Freundes hat dort seine letzte Ruhestätte gefunden. Als er verschwand, war er nicht viel älter als dreißig, und mehr als dreißig Jahre mussten vergehen, bis die Familie endlich Gewissheit hatte. Ein Name, ein Foto, ein Schicksal, dem Vergessen abgerungen.

Ich kenne das Foto. Als Konterfei auf den Plakaten, die wir als Studenten und Solidaritätsaktivisten in den siebziger Jahren hochhielten, wenn wir gegen Chiles Militärdiktatur protestierten.

Dónde están? Wo sind sie? Diese Frage hängt wie ein Damoklesschwert über Chiles Geschichte. Noch immer sind es mehr als tausend, deren Schicksal keiner kennt. Die Gesichter der jungen Menschen auf den Fotos, mit denen ihre Angehörigen immer wieder vor den Regierungspalast ziehen, verblassen. Die Erinnerungen auch. Die Frauen tanzen ihre traditionelle Cueca, allein, ohne Männer. Jeder Schritt ist eine verzweifelte Anklage.

Wie lange werden Syrer*innen fragen müssen: Dónde están?

“Ich werde niemals schweigen” – Leitartikel von ,Families for Freedom’-Gründerin Fadwa Mahmoud.

Als die syrischen Aktivistinnen von ‚Families for Freedom‘ mit ihrem roten Bus nach Berlin kamen, bin ich zum Brandenburger Tor gegangen. Ich hörte die gleichen unerträglichen Geschichten, die mir damals meine chilenischen Freunde erzählten: Von Menschen, die nicht von der Arbeit nach Hause kamen, auf dem Weg zur Universität verschwanden, vor ihrer Haustür verhaftet wurden. Von den Frauen, Müttern, Schwestern, Töchtern, die auf Polizeistationen, in Hospitälern oder Leichenschauhäusern nach ihnen suchten, Beamte bestachen und an Gefängnistore trommelten.

Ich vertiefte mich in die Fotos, die vor dem Bus aufgestellt waren, und forschte nach den Geschichten hinter den Gesichtern. Dann suchte ich mir eins aus, um mich an die Seite der Frauen zu stellen und ihnen zu zeigen, dass ich mit ihnen fühle.

Fadwa Mahmoud hat die Initiative „Families for Freedom“ gegründet. Sie setzen sich international für die Freilassung der Gefangenen und die Ahndung von Menschenrechtsverbrechen in syrischen Gefängnissen ein. Foto: Jan-Niklas Kniewel.

Wie lange wird es dauern, bis sie wissen, was mit ihren Lieben geschehen ist?

Werden sie auch, wie die Chileninnen, jahrzehntelang fragen müssen: Dónde están?

Gabriele Wojtiniak ist Teilnehmerin unseres Projekts „rethinking societies“, das Zeitzeug*innen der friedlichen Revolutionen von 1989 in der DDR und von 2011 in Syrien zusammenbringt. Im Rahmen des Projekts entstand die Ausstellung „Diktatur, Opposition, Revolution!“, die noch bis 14.9.2021 in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin gezeigt wird. Die Online-Version der Ausstellung „Demokratie ist kein Denkmal“ finden Sie hier…