Freiwillige versuchen in Idlib Betroffene des Erdbebens aus den Trümmern zu ziehen.

Stimmen aus der Erdbebenregion

Am 6.2.2023 hat das schwerste Erdbeben seit 30 Jahren die türkisch-syrische Grenzregion getroffen. Es gibt Hunderte Todesopfer, Tausende Verletzte. Insgesamt sind mehrere Millionen Menschen betroffen – darunter auch unsere Partner*innen.

Freiwillige versuchen in Idlib Betroffene des Erdbebens aus den Trümmern zu ziehen.

Unsere Partner*innen leben und arbeiten seit vielen Jahren in Nordsyrien. Sie haben Flucht, Vertreibung, Belagerung, Bombardements, Hunger und Armut erlebt, aber die aktuelle Krise stellt auch für sie alles bisher Dagewesene in den Schatten.

10.02.2023

Wir haben gehört, dass 14 bis 16 LKWs über den Grenzübergang Bab Al-Hawa gekommen sein sollen – davon sind zwei hier in Salqin angekommen. Zwei Lastwagen mit Matratzen für eine zerstörte Stadt mit 40.000 Einwohner*innen? Das ist das internationale Großaufgebot an Hilfe? Um diese Hilfsgüter zu bekommen, mussten die Menschen außerdem einen Familienregisterauszug und andere Unterlagen vorweisen. Was für Hilfe soll das sein? Die Häuser der Menschen sind mitsamt ihrem gesamten Hab und Gut nachts über ihnen zusammen gebrochen, sie leben auf der Straße ohne richtige Kleidung – woher sollen sie jetzt solche offiziellen Unterlagen bekommen?  Ich sage euch ehrlich, jede*r Einwohner*in von Salqin leistet grade besser humanitäre Hilfe für die Überlebenden des Erdbebens als die UN!

Soad, Makers of Change, Salqin/Idlib
Die Makers of Change verteilen Lebenmittel in einem Camp von Überlebenden des Erdbebens.

In den ersten Tagen haben wir in den am stärksten vom Erdbeben betroffenen Orten – Jenderis, Salqin, Saroun – Lebensmittel an die Überlebenden verteilt. Jetzt versuchen wir uns auf andere Bedarfe der Menschen zu konzentrieren. Dabei fehlt es vor allem an Heizmaterialien. Nächste Woche sollen minus 8 Grad werden.Die Überlebenden des Erdbebens sind derzeit an vielen Orten in einfachen, provisorischen Zelten untergebracht. Die haben dort auch keinen Strom, keine Wasserversorung, keine Sanitäranlagen. Wir versuchen deshalb Generatoren und Batterien zu organisieren.

Auf unseren Einsatztouren der letzten Tage sind wir außerdem in extrem zerstörte Viertel gelangt, zu denen nach wie vor niemand Zugang hat, um die Menschen mit Hilfen zu versorgen. In diesem Viertel bin ich eine halbe Stunde gelaufen und habe nichts als vollständig zerstörte Häuser gesehen. In unserer Region hier gab es schon vor dem Erdbeben unzählige IDP Camps, in denen die Lebensbedingungen extrem prekär ist. Unser Ziel ist es, dass es nicht zu neuen Camps kommt, sondern dass so viele Menschen wie möglich in Häuser zurückkehren können.

Hayyan Al-Faisal, Hooz Zentrum, Azaz
Plakat links: “UN….Sie ist diejenige, die Workshops zur Gerechtigkeit braucht!”
Plakat rechts: “Das weinen der Verschütteten hat aufgehört. Danke für nichts, UN!”

– Unsere Partner in Atareb protestieren gegen die Hilflosigkeit.

Hier in Atareb sind bisher gar keine internationalen Hilfen angekommen – hier organisieren die Zivilgesellschaft und lokale Organisationen nach wie vor jegliche Form von Nothilfe allein. Essen, Medizin, Zelte, alles was gebraucht wird.

Aber uns wundert es nicht, dass noch keine Hilfen hier angekommen sind – Assad und Russland üben Druck auf die UN aus, damit die UN-Hilfen über Damaskus abgewickelt werden, um unser Schicksal hier in ihrer Hand zu haben. Assad versucht sich als der Retter in der Not zu inszenieren – dabei sind die Regionen, die am stärksten vom Erdbeben betroffen sind, Regionen außerhalb der Kontrolle des Regimes, die Assad seit Jahren bekämpft. Am Anfang würden vielleicht auch 2 oder 3 Hilfslieferungen ankommen. Aber man kann sicher sein, dass das Regime mittelfristig den Zugriff auf die Hilfen in den Nordwesten instrumentalisieren würde und verhindern würde, dass sie wirklich hier ankommen. Wir haben diese Erfahrungen mit dem Regime in der Vergangenheit schon gemacht.

Mohamad, Ziviles Zentrum, Atareb:                                                                             

07.02.2023

Mohammed vom zivilen Zentrum in Atareb, Idlib

„Wir sind an Bombardierungen und Zerstörung gewöhnt, aber das ist alles nichts im Vergleich zu dem, was wir gerade erleben. Das Erdbeben hat die gesamte Region auf einen Schlag in Schutt und Asche gelegt. In Atareb ist die Situation extrem schlecht, ca. zehn Prozent der Gebäude sind vollständig eingestürzt, viele andere stark beschädigt. Die Weißhelme versuchen die Menschen aus den Trümmern zu bergen, aber stündlich steigen die Opferzahlen weiter. Wir brauchen dringend Hilfe von außen: Wasser und Nahrungsmittel für die Betroffenen, medizinische Versorgung für die Verletzten und schweres Geräte zur Bergung der Verschütteten.“

Souad von den Makers of Change in Salqin, Idlib

„Meine Kinder und ich haben dem Tod in die Augen geschaut. Ganze Gebäude sind neben uns komplett eingestürzt. Die Situation in der Stadt ist katastrophal und extrem unübersichtlich. Es gibt immer wieder kleinere Nachbeben, die wir spüren können. Wir haben Angst, dass deshalb noch mehr Gebäude einstürzen werden. Die Menschen hier sind noch immer in Gefahr und viele befinden sich auch noch unter den Trümmern. Es wird versucht sie zu bergen, aber es sind so viele – überall liegen Trümmer und Menschen darunter. Ich mache mir große Sorgen, weil ich meine Familie und Freund*innen nicht erreichen kann. Das Internet funktioniert einfach nicht richtig. Ich versuche es seit Stunden, aber das Internet funktioniert nicht richtig. Ich muss wissen, ob sie in Sicherheit sind. Aber von den meisten habe ich noch keine Nachricht.”

Anas vom Hooz-Zentrum in Azaz (Rif-Aleppo)

„Heut habe ich gelernt, was Angst wirklich bedeutet. Ich kann es nicht richtig beschreiben, ich finde keine Worte dafür. Die Situation in Azaz ist katastrophal und es herrscht ein absolut beängstigendes Chaos. Niemand will zurück in die intakten Häuser, aber es ist kalt und es regnet – wir können nicht die ganze Nacht hier draußen bleiben. Ein Teammitglied hat enge Familienangehörige verloren, einige liegen noch vergraben unter Trümmern, wenigstens seine Eltern konnten lebend geborgen werden. Das ist auch das Schlimmste für mich: Ich erreiche nicht alle aus meiner Familie oder meine Freund*innen, ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Meine Eltern sind in der Türkei – ich kann ihnen da nicht helfen. Aber ich habe wenigstens hier einen Ort finden können, wo unser Team jetzt zusammen mit sieben anderen Familien unterkommt bis klar ist, wie es weitergeht.”

Edira von Sawiska in Qamishli

„Hier in Qamishli ist die Situation im Vergleich relativ stabil. Es hat ja vor allem Idlib, Aleppo, Afrin, Azzaz und Hama getroffen. Aber trotzdem haben die Menschen hier Angst, es sind auch immer noch Nachbeben zu spüren. Deswegen sind gerade fast alle draußen auf der Straße, weil wir Angst haben, in den Häusern zu bleiben. Wir wollen heute Nacht nicht wieder überrascht werden und im Schlaf in unseren Häusern sterben. Deshalb gibt es derzeit eine große Fluchtbewegung aus Qamishli heraus in die ländlichen Gebiete drumherum, denn dort gibt es keine hohen Gebäude, die einstürzen könnten. Viele haben bereits die Stadt verlassen oder sind dabei.“

Unsere Partner*innen wollen Nothilfe leisten. Dafür brauchen sie Ihre Unterstützung!