Gestern war die Front noch 13 Kilometer entfernt, heute sind es nur noch fünf: Die Truppen des Assad-Regimes kommen der Kleinstadt Atareb, westlich von Aleppo in der Region Idlib gelegen, bedrohlich nahe. Bis vor einer Woche fanden Vertriebene aus dem Süden der Region hier Zuflucht, jetzt fliehen viele Bewohner*innen aus der Stadt weiter in Richtung der abgeriegelten türkischen Grenze – darunter die Familie unseres Partners Mohammed Shakerdy mit seinem Neugeborenen. Er selbst harrt in der Stadt aus, um das von ihm aufgebaute Zentrum für Zivilgesellschaft weiter zu betreiben. Das Zentrum aufzugeben, bevor das Assad-Regime einrückt, wäre ein fatales Zeichen, meint er. Außerdem unterstützen die Aktivist*innen die Bedürftigen, wo es nur geht. Wie das „Leben“ in Atareb gerade aussieht, erzählt er in einer Videobotschaft:
Am Telefon berichtet uns Shakerdy außerdem:
„Das Leben in der Stadt ist komplett zum Stillstand gekommen. Neben den Flugzeugen und Helikoptern sind permanent Drohnen am Himmel. Ständig höre ich Panzerraketen, Flugzeuge und Fassbomben – aber ich weiß nicht, wo sie einschlagen. Vorgestern sind hier vier Menschen bei Angriffen getötet worden, seitdem ist quasi ganz Atareb auf der Flucht. Meine Frau ist mit meinem Sohn und unserem Neugeborenen in den Norden nach Afrin geflohen. Fast 70.000 Menschen lebten hier in Atareb, darunter 30.000 Schutzsuchende. Tausende sind jetzt gezwungen, in den Norden zu gehen, nach Afrin oder an die Grenze zur Türkei. Selbst die dschihadistischen Milizen der HTS sind verschwunden. Jahrelang haben wir uns gegen ihre Unterdrückung durch die Bewaffneten gewehrt, jetzt kämpfen sie nicht einmal, sondern ziehen sich zurück – und nehmen sogar die Stromkabel mit.“
Wir zivilen Aktivist*innen werden jetzt wieder zu Medien-Aktivist*innen, wie ganz am Anfang des Aufstands gegen das Assad-Regime. Damals dokumentierten wir die Demonstrationen und die Angriffe gegen Zivilist*innen. Jetzt versuchen wir wieder, Nachrichten von hier in die Welt zu transportieren, damit die Welt weiß, was in Syrien vor sich geht.
Es ist heute extrem kalt und Atareb ist gerade ruhig – man hört eigentlich nur die Autos, die Menschen von hier an andere, sicherere Orte bringen. Eigentlich wollen noch mehr Menschen die Stadt verlassen, aber es gibt nicht genügend Autos. Das Internet bricht ständig zusammen, denn viele nehmen ihre Technik für Satelliten-Internet mit. Dasselbe gilt für den Strom – viele haben ihre Generatoren abgebaut und einfach mitgenommen, denn so ein Generator lässt sich im Zweifelsfall zu Geld machen. Diejenigen, die noch hier sind, können es sich wegen der teuren Dieselpreise nicht leisten, die Generatoren anzuschmeißen. Deshalb funktioniert hier gerade alles nur noch mit Sonnenenergie.
Trotzdem gibt es auch Menschen, die hier bleiben wollen. Neben uns zivilen Aktivist*innen sind das viele alte Menschen, die das Gefühl haben, ihre Stadt einfach nicht verlassen zu können. Natürlich haben sie Angst davor, was passiert, wenn das Regime tatsächlich einrückt, aber sie haben ihr ganzes Leben hier verbracht – ihre Seelen sind hier.
Und ich? Ich verlasse die Stadt nicht, ich arbeite weiter, solange „nur“ gebombt wird. Wenn aber das Assad-Regime kommt, dann muss ich weg. Denn davor habe ich wirklich Angst.