Warum bleiben Menschen in einem Gebiet, das von der aus al-Qaida hervorgegangenen Miliz HTS regiert und permanent aus der Luft angegriffen wird? Warum fliehen sie nicht einfach in die Gebiete unter der Herrschaft Assads? Diese Fragen hören wir immer öfter. Hier sind die Antworten unserer Partner*innen:
Karim*,30, aus Atareb, Vater eines einjährigen Kindes und langjähriger Aktivist
Ich habe mich vor acht Jahren bewusst für die Revolution entschieden und damit meinen Traum auf ein Studium an einer Hochschule begraben. Wir wussten damals schon sehr gut, wie das Regime mit seinen politischen Gegnern verfährt: Sei es das Massaker von Hama 1982 oder die 20-30 Jahre Haft für alle Oppositionelle von Hafiz al-Assad. Du kannst dir also vorstellen, was wir in den vergangenen acht Jahren erlebt haben und immer noch erdulden. Nach bereits mehreren hunderttausenden Toten, tausenden Verletzten und tausenden Inhaftierten werden unsere Städte immer noch systematisch ausgebombt. Das Regime ist bereit alles zu zerstören, nur um an der Macht zu bleiben.
Wir haben auch gesehen, was in den Gebieten passiert, die eine Übergabevereinbarung mit dem Regime getroffen hatten, nachdem sie über Jahre belagert, beschossen, ausgehungert und vertrieben wurden. Seit sie wieder unter Assads Kontrolle sind, werden Menschen wieder willkürlich verhaftet oder gegen ihren Willen zum Militärdienst eingezogen und dann an die Front gebracht. Wie soll ich mit diesen Erfahrungen und diesem Wissen „Sicherheit“ beim Regime finden? Auch ich würde mit ziemlicher Sicherheit verhaftet und hingerichtet werden. Ihr kennt alle die Ceasar-Bilder der Verhafteten und Gefolterten, alle erinnern sich wohl sehr gut daran!
Die Herrschaft von HTS ist aus diversen Gründen nicht wirklich bedrohlich für mich. Obwohl ich über HTS schreibe und mich auch an Demonstrationen gegen die Terrormiliz beteiligt habe, wurde ich bislang nicht verhaftet. Das liegt auch daran, dass HTS versucht, eine breitere Masse an Unterstützer*innen für sich zu gewinnen. Sie wollen zeigen, dass sie fähig sind, hier zu regieren. Deshalb bleiben Aktivist*innen derzeit eher unbehelligt. Trotzdem ist es sehr bitter, nur die Wahl zu haben, unter der Herrschaft von HTS zu leben.
Abu Tayseer, 28, wurde im Mai 2018 im Rahmen des russisch-syrischen Agreements in Bussen aus Süddamaskus abtransportiert, lebt seitdem in Areha in Idlib
Selbst wenn ich wollte, es gibt keinen sicheren Weg heraus aus Idlib. Zum einen ist der Weg zum sogenannten „sicheren Korridor“ alles andere als sicher. Das syrische Regime beschießt und bombardiert alles, was sich bewegt – je näher man sich auf die Front zubewegt, umso gefährlicher wird es.
Zum anderen haben das syrische Regime und seine russischen Verbündeten den Begriff „sicherer Korridor“ bereits bei der Belagerung von Ost-Ghouta genutzt. Die Realität sah damals so aus: Die Menschen, die Ost-Ghouta über diese „sicheren Korridore“ verlassen haben, wurden erniedrigt, für die syrische Propaganda missbraucht und dann in Aufnahmelagern unter schlechtesten Bedingungen verfrachtet. Männer zwischen 15 und 50 Jahren wurden von den Sicherheitsbehörden verhaftet.
Es gibt also etliche Gründe, unter der Herrschaft von HTS zu bleiben, solange die Alternative das Assad-Regime ist. Und trotz der Menschenrechtsverletzungen der HTS ist es hier immer noch besser als sich dem Regime und seinen Alliierten auszuliefern, die jeden einzelnen Tag Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben.
Außerdem hat die HTS keine hochmodernen Instrumente, um uns Bürger*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen auszuspionieren, so wie es das Regime tut. Und es gibt hier auch keine Zwangsrekrutierungen: Junge Menschen werden nicht dazu gezwungen, Seite an Seite mit den Anhängern der HTS zu kämpfen.
Abu Karim, in seinen 40ern, unser Partner und Editor bei der lokalen Zeitung „Zaitoun“
Die meisten Menschen und Familien ziehen die Flucht auf die offenen Felder den sogenannten „sicheren Korridoren“ vor. Es herrscht einfach kein Vertrauen in das Regime und Russland. Ihnen geht es nicht um wirklich um den Schutz der Menschen – mit dieser Behauptung polieren sie lediglich ihr Image auf. Denn zeitgleich werden ja stündlich Menschen durch Kampfflugzeuge und Bomben ermordet. Die Öffnung eines „sicheren Übergangs“ in einer Gegend, aus der vorher bereits alle Zivilist*innen geflohen sind, ist ein Verhöhnen der Syrer*innen sowie der Internationalen Gemeinschaft.
Viele Menschen hier wissen genau, was sie erwarten würde, sollten sie durch diese Korridore fliehen: Sie sind eine Falle für jeden, der sie benutzt. Wir haben gesehen, was mit den Menschen im Umland von Damaskus und in Daraa passiert ist, nachdem das Regime diese Gegenden eingenommen hat. Wir haben auch gesehen, mit welcher Härte das Regime Menschen verhaftet und ermordet oder in die Ränge des Militärs eingezogen hat, nur um diese Menschen loszuwerden. Russland sieht diese Korridore als Mittel, um mit politischen Mitteln seine Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung zu decken.
Deshalb bevorzugen wir hier weiter unter der HTS statt unter Regime-Herrschaft zu leben. Auch wenn wir unter den Einschränkungen und der Unterdrückung der HTS und sehr stark unter den Bombardierungen des Regimes leiden.
Sobald es zu einer internationalen Einigung für die Region kommt, wird das Phänomen HTS über Nacht verschwinden.
Mariam*, 35, ist von Kafr Nabl nach Salqeen geflohen, Mutter von zwei Kindern, langjährige Aktivistin
Es gibt keine sicheren Übergänge hier. Das ist nur eine Lüge. Als ich vor drei Monaten geflohen bin, waren wir gezwungen, im Schutz der Dunkelheit die Stadt zu verlassen. Es sind konstant Drohnen im Himmel, die alle Bewegungen verfolgen, deswegen konnte wir auch nicht die Lichter des Autos anstellen. Die Leute, die noch immer in der Stadt sind, machen nachts keine Lichter an, um nicht entdeckt zu werden. Es gibt einige Familien, die bereits beschossen wurden, als sie ihre Koffer und ihren Besitz ins Fluchtauto luden. Da die Autos vielleicht zu schnell sind, wurde also begonnen, die Menschen zu treffen, bevor sie fliehen können. Von welchem sicheren Geleit und sicheren Übergängen sprechen wir hier also?
Seitdem das Regime Khan Sheikhoun eingenommen hat, bombardiert es die Städte so stark, dass die Leute wie belagert in ihren Orten sind und sie nicht mal fliehen können. Echte Fluchtchancen sind also kaum vorhanden. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder bei der Flucht durch Bomben und Beschuss sterben oder man bleibt in der Belagerung. Es gibt da keine sicheren Übergänge. Wer es raus schafft, hatte einfach nur Glück.
Zuerst kommen die Drohnen, dann die Raketen.
Luftangriff auf Khan Sheikhun
Die Leute, die es schaffen, fliehen in den Norden und nicht in den vom Regime-kontrollierten Süden. Alle wissen: Es gibt keine sicheren Übergänge, das existiert nur in den Medien. Selbst die Highways werden beschossen, durch Mörserraketen oder aber durch Flugzeuge.
Was HTS angeht: Von denen bekommen wir hier gerade nicht so viel mit. Einige von ihnen sind an der Front und kämpfen dort. Aber dass wir bombardiert werden, um den Terrorismus zu bekämpfen, ist eine Ausrede.
*Aus Sicherheitsgründen anonymisieren wir unsere Partner*innen aus Idlib. Hintergrund sind mögliche Repressionen durch HTS sowie die Verfolgung des Assad-Regimes.
Auch wenn die Menschen in Idlib die HTS dem Assad-Regime vorziehen: HTS ist und bleibt eine gefährliche islamistische Terrororganisation gegen die sich die Menschen ebenfalls wehren. Um unseren Partner*innen in Idlib in dieser schwierigen Situation beistehen zu können, brauchen wir Ihre Hilfe. Unsere Partner*innen auf der Flucht haben hohe Kosten, um sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen. Projekte in Gebieten, in denen viele Geflüchtete Schutz suchen, brauchen Unterstützung, um sich für Schutzsuchende engagieren zu können.