UN-Hilfskonvois passieren den Grenzübergang Bab al-Hawa im Nordwesten Syriens am 6. Januar 2022 (Archivbild). Damit ist nun Schluss.

Humanitäre UN-Hilfe in Nordwestsyrien gestoppt

Millionen Menschen sind in Nordwestsyrien von humanitärer Hilfe abgeschnitten – der UN-Sicherheitsrat konnte sich auf keine Verlängerung der entsprechenden Resolution einigen. Der zuletzt noch verbliebene Grenzübergang für UN-Hilfslieferungen ist geschlossen. Was nun?

UN-Hilfskonvois passieren den Grenzübergang Bab al-Hawa im Nordwesten Syriens am 6. Januar 2022 (Archivbild). Damit ist nun Schluss.

Bab al-Hawa, der letzte nutzbare Übergang für grenzüberschreitende Hilfe, ist dicht – zumindest für humanitäre UN-Hilfslieferungen. Die entsprechende UN-Resolution 2165, die solche grenzüberschreitende humanitäre Hilfe möglich macht, lief am Montag, den 10. Juli aus und hätte bis dahin im UN-Sicherheitsrat verlängert werden müssen. Eine für den 7. Juli geplante Abstimmung wurde zunächst auf Montag, dann auf Dienstag verschoben. Eine gemeinsame Position wurde trotzdem (bislang) nicht gefunden.

Das Geschachere im UN-Sicherheitsrat

Die Vereinten Nationen sowie internationale Hilfsorganisationen forderten eine zwölfmonatige Verlängerung des UN-Mandats für den Transport von Hilfsgütern über den Grenzübergang Bab al-Hawa. Russland hingegen war nicht bereit über sechs Monate hinauszugehen. Als Kompromiss legten Brasilien und die Schweiz einen gemeinsamen Vorschlag vor, der eine Verlängerung der Resolution um neun Monate vorsah. Zudem enthielt er einen Absatz über die Ausweitung von grenzüberschreitenden Einsätzen, eine Aufstockung der Mittel, verstärkte frühzeitige Wiederaufbaumaßnahmen und humanitäre Minenräumaktionen. Obwohl 13 der 15 Länder im Rat für die Resolution stimmten, wurde sie mit dem Veto Russlands abgelehnt. Denn: Für die Annahme einer Resolution im Sicherheitsrat sind mindestens neun Ja Stimmen und kein Veto der ständigen Mitglieder Russland, China, den USA, Frankreich oder Großbritannien erforderlich.

Mit den Gegenstimmen Großbritanniens, Frankreichs und der USA scheiterte auch der russische Vorschlag, mit zehn Enthaltungen erreichte dieser nicht mal das Quorum. Der Ablehnungsgrund: Die Wintermonate, die besonders hart zum Überleben sind, wären dann nicht abgedeckt; vernünftige Planungen für Hilfsorganisationen wären unmöglich.

Verhandlungen gehen weiter, Ausgang ungewiss

Auch wenn Bab al-Hawa derzeit bereits geschlossen ist, gibt die UN nicht auf – die Verhandlungen werden hinter geschlossenen Türen derzeit weiter fortgesetzt. UN-Generalsekretär António Guterres forderte die Ratsmitglieder am Dienstagabend auf, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, um die grenzüberschreitende Hilfe für Millionen von Bedürftigen “so lange wie möglich” aufrechtzuerhalten. Allerdings lässt der russische Botschafter Zweifel an einer Einigung auf eine Kompromissresolution aufkommen. Denn Russland will einer Verlängerung über sechs Monate hinaus nur zustimmen, wenn im Gegenzug Sanktionserleichterungen für das syrische Assad-Regime bewilligt werden. Ein schneller Verhandlungserfolg – sofern es überhaupt einen geben sollte – ist also nicht zu erwarten.

Glück im Unglück, aber keine Rettung

Für die Menschen in Nordwestsyrien zählt aber jede Sekunde, denn die Lage war schon mit den Hilfslieferungen mehr als angespannt. Die Region ist immer noch schwer von den Folgen der Erdbeben Anfang Februar gezeichnet. Bereits davor waren hier über 90 Prozent der Menschen unmittelbar auf humanitäre UN-Hilfen angewiesen. Das Aus der Lieferungen ist auch das Aus für eine ganze Region. Unsere Partnerin Huda Khaity vom Frauenzentrum Idlib hatte bereits vergangenes Jahr: „Wir werden hier sterben, wie die Fliegen“. Auch im vergangenen Juli konnte sich der UN-Sicherheitsrat erst nach Ablauf der Resolution einigen und die Menschen blieben zunächst tagelang ohne Hilfe, bis die im wahrsten Sinne rettende Nachricht kam.  

Die UN wird zunächst die Hilfslieferungen fortsetzen, und zwar über die Grenzübergänge Bab al-Salam und al-Ra’ee. Diese waren neben einem weiteren in den vergangenen Jahren auf Betreiben Russlands geschlossen und im Februar diesen Jahres mit Sondergenehmigung des Assad-Regimes nach den Erdbeben für Nothilfe temporär wieder geöffnet worden. Diese Genehmigung läuft am 13. August aus. Allerdings bietet die buchstäbliche Galgenfrist keinen Anlass für Optimismus. Denn zum einen liefen bisher 85 Prozent der gesamten UN-Hilfsgüter über Bab al-Hawa. Die UN hat bereits erklärt, dass sie nicht in der Lage sei, dieses Volumen über die beiden anderen Grenzübergänge zu erreichen. Zum anderen ließ das Assad-Regime die Anfragen der UN, ob Bab al-Hawa in die Sondergenehmigung miteingeschlossen werden und es eine Verlängerung über den Stichtag hinaus geben könnte, bislang unbeantwortet. Derzeit sind nach eigener Aussage noch UN-Hilfslieferungen in Syrien gelagert, den Bedarf können diese aber nicht mal kurzzeitig kompensieren.

Es muss und es kann ohne Russland gehen

Es scheint, das Leben der Menschen in Nordwestsyrien hinge von Russlands Gnaden ab. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Russland hat zwar die Macht die UN-Resolution zu blockieren. Aber ein UN-Mandat ist für humanitäre Hilfe gar nicht erforderlich. Der Internationale Gerichtshof, das Rechtsorgan der UN, bestätigte, dass humanitäre Hilfe unabhängig von der politischen Zugehörigkeit der Betroffenen geleistet werden kann, ohne als unrechtmäßige Intervention oder Verstoß gegen das Völkerrecht verstanden zu werden. Sie ist daher dann unbedingt legitim, wenn das willkürliche Untersagen zu Hunger und Not der Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen führt.

Völkerrechtlich braucht es dazu nur die Zustimmung der Gruppen und Parteien, die de facto die Zielgebiete kontrollieren – also nicht Assad –, um humanitäre Hilfe zu leisten. Und auch diese dürfen nur aus triftigen Gründen und nicht willkürlich ablehnen. Zudem unterstehen Nichtregierungsorganisationen nicht dem Völkerrecht. Humanitäre Hilfe kann jederzeit weiterhin von ihnen geleistet werden. Der UN und allen Staaten steht es grundsätzlich frei, diese indirekt zu unterstützen.

Die internationale Gemeinschaft kann und muss unabhängig von der Zustimmung des UN-Sicherheitsrates grenzüberschreitende Hilfe leisten. Spätestens jetzt, wo der humanitäre Bedarf in Nordwestsyrien seinen vorläufigen historischen Höchststand erreicht hat, müssen die UN und die Geberländer handeln und Hilfslieferungen ohne UN-Mandat organisieren. Denn ohne humanitäre Hilfe haben die meisten in der Region keine Überlebenschancen.