134 Tage währte die Offensive auf Raqqa. Der Preis für die Eroberung war hoch: Mehr als 1.800 Zivilisten und eine unbekannte Zahl an Kämpfern verloren ihr Leben, rund 80 Prozent der Stadt sind laut UN-Angaben unbewohnbar – zerstört insbesondere durch Luftangriffe der US-geführten Internationalen Koalition gegen den IS und die Sprengfallen und Bombenanschläge der Dschihadisten. Die Stadt ist entvölkert: Rund 300.000 ehemalige Einwohner harren in Flüchtlingslagern aus oder gingen ins Ausland. Und nur weil der IS in Raqqa besiegt ist, ist der Frieden noch lange nicht gewonnen. Um ihn zu erringen, muss die SDF funktionierende öffentliche Dienstleistungen, Sicherheit, Gerechtigkeit und Partizipation nach Raqqa bringen. Und den Wiederaufbau der zerstörten Stadt meistern.
Ist der IS nun geschlagen?
Der IS hält nur noch ein kleines Gebiet im Osten Syriens – das „Kalifat“ ist damit so gut wie zerschlagen. Doch das bedeutet nicht das Ende des IS. Die Terrororganisation wurde in der Vergangenheit mehrfach für besiegt erklärt, so etwa 2008. Schon seit Monaten bereitet sich der IS auf das Ende seiner Herrschaft vor. Es ist davon auszugehen, dass er wieder zu seinen alten Strategien des Guerillakrieges übergehen und weiter Anschläge begehen wird. Ob er ein erneutes Comeback wie 2013 schafft, hängt davon ab, ob es gelingt, Konfessionalismus, Chaos und Gewalt in der Region einzuhegen und legitime lokale Regierungsstrukturen zu errichten. Dies erscheint jedoch unwahrscheinlich: Das weitere Erstarken des iranischen Einflusses im Irak und in Syrien dürfte für die Propaganda der Extremisten ein gefundenes Fressen sein, ebenso das mittlerweile gesicherte Überleben des Assad-Regimes, dessen Gewalt Syrien erst in den Abgrund gestoßen hatte.
Wann können die Menschen nach Raqqa zurückkehren?
Bevor der IS die Kontrolle über eine Stadt verliert, hinterlässt er zahllose Sprengfallen. Allein die Räumungskommandos werden Monate brauchen. Erst dann kann der Wiederaufbau beginnen.
Wer baut Raqqa wieder auf?
Es ist völlig unklar, wer diesen Wiederaufbau schultern soll. Die Amerikaner, die engsten Verbündeten der SDF, haben mehr als einmal betont, nicht länger als nötig in Syrien bleiben zu wollen. Viele Menschen in Nordsyrien befürchten, dass Washington sie fallen lassen könnte, nachdem der Krieg gegen den IS vorbei ist. Auch die Nachrichtenagentur AFP zitierte jüngst einen US-Beamten, dass man sich in Raqqa auf „kurzfristige Soforthilfeprojekte“ fokussieren wolle, um das Leben nach Raqqa zurückzubringen: „Wir sind nicht für immer hier, um alle Probleme zu lösen.“
Nach einer längerfristigen Strategie für den Wiederaufbau klingt das nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Türkei wegen ihrer Feindschaft zur Kurdenmiliz YPG, die die SDF dominiert, weiterhin die Grenzen nach Nordsyrien fest verschlossen hält. Auch der Grenzübergang nach Irakisch-Kurdistan ist instabil: Zum einen ist die dominante syrisch-kurdische Partei PYD mit ihren Pendants im Nachbarland verfeindet. Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass die vom Iran kontrollierten schiitisch-islamistischen Milizen und die irakische Armee, die seit einigen Tagen immer größere Gebiete des Iraks von den Kurden zurückerobern, nicht auch diesen Grenzübergang unter ihre Kontrolle bringen – ein weiteres Erstarken der syrischen Kurden wäre Teheran ein Dorn im Auge.
Am 17. Oktober kam es in Ain Issa, wo die Interimsverwaltung Raqqas bislang untergebracht ist, zu einem Besuch der überraschenden Art: Der saudische Minister Thamer al-Sabhan nahm an mehreren Treffen teil und diskutierte den Wiederaufbau der Stadt. Es ist vorstellbar, dass die Saudis sich hier engagieren werden. Nicht nur ist der Wiederaufbau ein lukratives Geschäft und würde Riad dabei helfen, ein gewisses Maß an Einfluss in Syrien zu bewahren: Viele der lokalen Stämme, die in Raqqa 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen, entstammen der arabischen Halbinsel. Sie haben noch immer enge familiäre Bindungen in die Region, manche von ihnen leben und arbeiten in Saudi-Arabien. Es ist kein Zufall, dass auch die Waffen, die den syrischen Aufstand militarisierten, von dort kamen. Wenn die Möglichkeit besteht, dass Assad und der Iran Raqqa mittelfristig übernehmen, wird Saudi-Arabien jedoch freilich kein Geld in den Wiederaufbau pumpen.
Es bleibt also völlig unklar, wie der Wiederaufbau gelingen kann. Die Europäische Union hat bislang drei Millionen Euro für die Beseitigung der Sprengfallen und Minen versprochen. Wollte man Fluchtursachen wirklich bekämpfen, wäre ein weit stärkeres Engagement naheliegend.
Wer wird Raqqa nun verwalten?
Für alle Städte, in der sie die IS-Herrschaft beendet, errichtet die SDF einen zivilen Verwaltungsrat. So auch in Raqqa. In mehrheitlich arabischem Gebiet kooperiert die mehrheitlich kurdische Milizen dabei mit den lokalen Stammesführern. Bislang mit Erfolg: Manbij etwa, eine Großstadt im Osten der Provinz Aleppo, ist seit ihrer Befreiung im Sommer 2016 wieder erblüht. Heute leben mehr Menschen in der Stadt als vor dem Krieg. Doch viele äußern auch Frustration: Denn der Zivile Rat wird von vielen nur als Feigenblatt gesehen, die eigentliche Kontrolle liege bei der PYD, der syrischen Schwesterpartei der PKK. Die Vertreter der Räte seien nicht viel mehr als Bittsteller. Sollte das der Wahrheit entsprechen, dann stehen der SDF erhebliche Probleme bevor.
Geht es nach der SDF, so soll Raqqa Teil der „Demokratischen Föderation Nordsyriens“ werden, im Westen besser bekannt als Rojava. Letztlich, so verspricht man es, solle aber die Bevölkerung darüber entscheiden, von wem sie zukünftig regiert werden will.
Die nordsyrische Föderation will jedoch auch ihren quasi-autonomen Status konsolidieren. Soll das gelingen, sind Verhandlungen mit dem Assad-Regime unausweichlich. Führende Politiker und Militärs in Nordsyrien haben bereits ihre Gesprächsbereitschaft signalisiert, auch Damaskus ist zu Verhandlungen bereit. Der Status von mehrheitlich arabischen Städten wie Manbij und Raqqa, die außerhalb des syrisch-kurdischen Kernlandes liegen, wird dann zwangsläufig Thema der Verhandlungen sein müssen. Für etwaige Deals sind beide Städte ein geeignetes Faustpfand.
Wie sieht die lokale Bevölkerung die SDF?
Die SDF wird von vielen Arabern in Syrien kritisch beäugt. Das liegt zum einen daran, dass die kurdischen Volkverteidigungseinheiten YPG das Bündnis dominieren. Mehrere arabische Bestandteile des Bündnisses sind weggebrochen, weil sie wegen des strengen Regiments durch die YPG frustriert waren. In den letzten Jahren verbreitete sich außerdem der Vorwurf, dass es bei Tall Abyad im Norden der Provinz Raqqa zu ethnischen Säuberungen durch die YPG gekommen sein soll. Amnesty International veröffentlichte einen entsprechenden Bericht. Die UN-Untersuchungskommission für in Syrien begangene Menschenrechtsverletzungen kam jedoch zu dem Schluss, dass sich diese Vorwürfe nicht erhärten ließen. Ob es nun der Wahrheit entspricht oder nicht: Viele Araber glauben den Vorwürfen und begegnen der YPG deshalb mit Skepsis. Dass die SDF ihren Sieg feierte, indem sie ein riesiges Bild des Kurdenführers Abdullah Öcalan am zentralen Nae’m-Platz enthüllte, war vor diesem Hintergrund undiplomatisch und provokativ. Die SDF baut in Ain Issa mithilfe der Internationalen Koalition schon seit Monaten eine mehrheitlich arabische Polizei für Raqqa auf, die dort in Zukunft für Sicherheit sorgen soll.
Die IS-Herrschaft hinterlässt ein schweres Erbe und tiefes Misstrauen, das auch die arabisch-kurdischen Beziehungen belastet. Eine Beziehung, die bereits wegen der Teile-und-Herrsche-Strategie sowie des arabischen Nationalismus des Assad-Regimes keine einfache ist. (Mehr dazu, und wie unsere Partnerprojekte daran arbeiten arabisch-kurdische Spannungen abzubauen, in unserem Bericht über das Zivile Zentrum in Amude.)
Wie sich die Beziehungen künftig entwickeln werden, hängt davon ab, ob der Zivile Rat von Raqqa erfolgreich ist, Partizipation ermöglicht und den Wiederaufbau effizient vorantreibt – dazu braucht er internationale Unterstützung.
Mehr darüber, wie der Extremismus geschwächt werden kann, lesen Sie in unserem Interview mit dem syrischen Journalisten Oras Shukur.
Jan-Niklas Kniewel