Am 9. Dezember 2013 wurde die syrische Dissidentin Samira al-Khalil gemeinsam mit der Menschenrechtsanwältin Razan Zeitouneh und zwei weiteren Mitstreitern im Damaszener Vorort Douma von Bewaffneten verschleppt. Wahrscheinlich verantwortlich: Die extremistische Miliz Jaysh al-Islam. Bis heute sind die Ereignisse nicht aufgeklärt, das Schicksal Samiras und der anderen ist völlig unklar. Angehörige vermuten sie im Frauengefängnis von Douma, in dem sie bereits während der 1980er und 90er Jahren vom Assad-Regime gefangen gehalten worden war. Nach ihrer Freilassung publizierte sie Bücher und engagierte sich für politische Gefangene, Frauenrechte und ab 2011 für die syrische Revolution. In den Vororten von Damaskus gründete sie neben mehreren Frauenzentren auch das Violations Documentation Center VDC. Nun gab ihr Ehemann, der Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh, einen Band mit ihren Tagebucheinträgen heraus. Mit seiner Genehmigung veröffentlichen wir hier einen der Texte in seiner deutschen Übersetzung.
Es ist ein Krieg; ein wirklicher Krieg. Kein importiertes Atari-Spiel. Ein Krieg, der andere Kriege darin überschattet, dass ihn die Welt vollkommen ohne Moral betrachtet.
Es ist kein Spiel. Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, die tagtäglich sterben – durch Krankheit, durch Hunger, durch Verzweiflung. Sie sterben durch die Granaten, die ihre Häuser treffen, sterben während sie das Mittagessen für ihre Kinder vorbereiten. Während sie sich fragen, was das Mittagessen morgen sein wird, trifft die Granate ein und sie sind von ihrem täglichen Leid befreit.
Wollte ich zwischen der Zeit im Gefängnis und der Zeit unter der Belagerung vergleichen, so überschattet die Belagerung mit all ihren Details die Zeit im Gefängnis. Das Gefängnis ist ein Exil, in dem es den Wohlstand des täglichen Essens gibt – trotz dessen Knappheit. Doch das einzige, was das Leben hier im Überfluss bietet, sind die Granaten und die Raketen des Todes. Der Tod überkommt hier jeden. Die Granate sucht sich keine Person aus; sie schlägt an einem Ort ein und wir – die Lebenden – zählen die Märtyrer. Das, was von den Krankenhäusern übriggeblieben ist, versucht dann denjenigen aufzunehmen, der noch am Leben oder noch zu retten ist. Er verliert womöglich einen Teil seines Körpers, sein Auge, seine Hand, sein Bein; aber er ist noch lebendig.
Erinnerungen ans Gefängnis
Ich erinnere mich an das Gefängnis – das Leben unter der Belagerung stellt es vollkommen in den Schatten. Die Bestialität nimmt jeden Belagerten ein. Kinder, Frauen, ältere Männer. Die Häuser, die ich besuchte, die Menschen, denen ich begegnete und die ihre Geschichten über ihre Geliebten erzählten: wie die Granate kam und den Körper zerfetzte. „Mein Onkel blieb drei Tage lang hängen nachdem die Granate den Ort traf. Wir konnten ihn erst nach drei Tagen herausziehen. An seinem Hemd konnten wir ihn erkennen und an der Wollfadenrolle, die er seiner Tochter bringen wollte.“
Solche Geschichten hört man täglich. Es gibt sie in allen Häusern. Wie ein Kind mit seinen Geschwistern vor der Tür spielte, als eine Granate herabkam und das Spiel beendete (die meisten Häuser sind ohne Männer; ohne Väter oder Ehegatten).
Nur wenige Menschen bewegen sich nachts. Nachts macht sich die Stille breit, die Dunkelheit ist tiefschwarz. Wenn jemand nach draußen will, nimmt er eine Taschenlampe mit, um etwas sehen zu können. Und er versucht sein Bestes, damit das Licht nicht sichtbar ist, aus Angst davor, dass eine Granate diese Stelle treffen könnte.
Ich war zu Besuch, 100 Meter von unserem Zuhause entfernt. Als ich wieder zurück wollte, hatte ich kein Licht dabei, um den Heimweg im Dunkeln zu leuchten. Umm Ahmad schickte ihre Tochter mit einer Taschenlampe, damit wir gemeinsam zum Haus gelangen konnten. Der Dunkelheit wegen war es nämlich sehr gut möglich, dass man in eine Grube fällt, die eine Granate hinterlassen hatte.
Im Schatten der Belagerung
Es ist unmöglich für jemanden, 50 Meter auf der Straße zu laufen, ohne immer wieder stehen bleiben zu müssen, weil sich ein Loch im Boden befindet. Das ist ein gemeinsames Merkmal der Straßen und Wege in der Ghouta. Wenn man ihre Straßen überquert, sieht man ihre Häuser und Läden auf beiden Seiten; alle ohne Glasscheiben. Kunststofffolien sind das Kennzeichen der Fenster und Läden dieses Ortes.
Es ist unmöglich, durch die Straßen zu gehen, ohne wenigstens ein oder zwei zerstörte Gebäude vorzufinden. Sie gehen ineinander über, sodass man nicht mehr wissen kann, wie viele Etagen die Häuser einmal hatten. Wo sind die Bewohner dieser Gebäude wohl hingegangen?
Früher, wenn man durch den Ort ging, sah man wie der eine Gemüse einkaufte, der andere Süßes für seine Kinder mit sich trug, ein anderer Brot, ein weiterer eine Gasflasche herbeiholte. Jetzt, im Schatten der Belagerung, gibt es nichts mehr von dem, was damals getragen wurde.
Seit 20 Tagen sehen wir kaum mehr Autos oder Motorräder. Die Menschen haben begonnen, sich an das Leben anzupassen und durchqueren die Ghouta nun auf dem umweltfreundlichen Fahrrad. Wenn man einen verstohlenen Blick auf die Straße wirft, sieht man um die zehn Fahrräder, die sich in alle Richtungen bewegen. Die Menschen flüchten sich nach dem Verschwinden der Motorhaube des Autos oder des Motorrads aufs Fahrrad, um ihre Sachen holen zu können.
Die Leute versuchen durch Geschicklichkeit und Tricks, alles Mögliche zu umgehen. Doch sie können keine Granate oder Rakete umgehen, die vom Himmel über der Ghouta auf ihren Boden trifft, um alles zu nehmen, was auf dieser Erde noch lebt.