
Russland sitzt wieder am diplomatischen Tisch in Syrien. Übergangspräsident Ahmad Al-Sharaa und Vertreter des Kremls sondieren derzeit Möglichkeiten einer künftigen Zusammenarbeit. Moskau möchte seine Militärstützpunkte vor Ort langfristig sichern und bietet wirtschaftliche Anreize: Kraftstofflieferungen, Investitionen in Infrastruktur – Geld, das in dem von Krieg zerstörten Land dringend gebraucht wird. Im Gegenzug steht die Forderung im Raum, eingefrorene syrische Vermögenswerte freizugeben und den ehemaligen Diktator Bashar al-Assad auszuliefern – letzteres wurde bereits zurückgewiesen.
Doch ebenso aufschlussreich wie das, was besprochen wird, ist das, was bewusst ausgespart bleibt: Die Aufarbeitung der schweren Kriegsverbrechen, an denen russische Truppen in Syrien maßgeblich beteiligt waren, spielt keine Rolle. Und das ist ein fatales Signal.
Geopolitisches Geschachere statt Gerechtigkeit
Seit 2015 hat Russland das Assad-Regime militärisch gestützt – mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung. Krankenhäuser, Schulen, Märkte und Wohnviertel wurden systematisch bombardiert. Diese Angriffe sind umfassend dokumentiert, unter anderem durch internationale Menschenrechtsorganisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen vor Ort. Und doch ist Russland bislang vollständig straffrei geblieben.
Die neuen Gespräche zwischen Damaskus und Moskau drohen, diesen Zustand zu zementieren. Statt Rechenschaft abzulegen, wird Russlands Rolle durch diplomatische Arrangements erneut gestärkt. Das ist nicht nur ein Affront gegenüber den Überlebenden – es ist ein Angriff auf das Völkerrecht selbst. Denn Kriegsverbrechen verjähren nicht. Ihre Ahndung ist keine Verhandlungsmasse, sondern eine rechtliche und moralische Verpflichtung.
Internationale Verantwortung statt nationaler Ausflüchte
Dass die syrische Justiz derzeit nicht in der Lage ist, russische Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, liegt auf der Hand. Politisch kontrolliert, strukturell geschwächt und rechtlich eingeschränkt, fehlt ihr jede Grundlage für ein unabhängiges Verfahren. Doch gerade deshalb ist klar: Die Verantwortung liegt nicht allein bei Syrien.
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit betreffen die gesamte internationale Gemeinschaft. Ihre Strafverfolgung darf kein diplomatisches Randthema sein – sie ist ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit internationaler Rechtsnormen. Ohne Gerechtigkeit kann es keine nachhaltige Stabilität in Syrien geben. Und ohne internationale Strafverfolgung verliert das Völkerrecht seine Wirksamkeit.
Zivilgesellschaftliche Aufarbeitung braucht politischen Rückhalt
Seit Jahren arbeiten Organisationen und Aktivist*innen mit unermüdlichem Einsatz daran, Beweise für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sichern. Doch so wichtig diese Arbeit ist: Sie allein reicht nicht aus. Ohne politische Rückendeckung und juristische Konsequenzen bleibt sie ein Mahnmal, aber kein Mittel zur Gerechtigkeit.
Einige europäische Staaten haben bereits Schritte unternommen, um Täter des syrischen Regimes strafrechtlich zu verfolgen. Doch russische Verantwortliche blieben bislang außen vor. Es ist an der Zeit, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren. Denn wer Kriegsverbrechen begeht – in Aleppo wie in Butscha –, darf sich nicht auf geopolitische Rückendeckung oder Vetomächte im UN-Sicherheitsrat verlassen können.
Neue Chancen für Gerechtigkeit – und neue Verantwortung
Die politische Lage in Syrien ist im Wandel. Der Zusammenbruch des alten Regimes hat den Zugang zu zuvor verschlossenen Archiven, Orten und Zeug*innen erleichtert. Diese neuen Möglichkeiten müssen jetzt genutzt werden, um auch russische Verbrechen sichtbar und justiziabel zu machen.
Internationale Organisationen, die EU, die USA – sie alle stehen in der Pflicht. Sanktionen gegen Russland dürfen sich nicht ausschließlich auf die Ukraine konzentrieren. Auch Russlands Beteiligung an schweren Menschenrechtsverbrechen in Syrien muss Teil der diplomatischen und juristischen Auseinandersetzung werden. Es darf keine Vereinbarungen geben, die die russische Präsenz in Syrien zementieren, ohne dass Gerechtigkeit zum festen Bestandteil dieser Prozesse wird. Insbesondere die Vereinten Nationen müssen ihre Rolle neu definieren. Es ist ihre Aufgabe, gegen Straffreiheit vorzugehen und Mechanismen zur internationalen Strafverfolgung zu schaffen – auch dort, wo Vetomächte blockieren. Die Glaubwürdigkeit der UN steht auf dem Spiel, wenn sie zulässt, dass einer der Hauptverantwortlichen für Kriegsverbrechen in Syrien nun mit am Tisch sitzt – ohne Reue, ohne Konsequenzen.
Keine Straffreiheit für Kriegsverbrecher
Die aktuellen Verhandlungen zwischen Russland und Syrien zeigen einmal mehr, wie politische Interessen über Gerechtigkeit gestellt werden. Doch Kriegsverbrechen dürfen nicht ignoriert oder relativiert werden. Sie sind kein diplomatischer Kollateralschaden, sondern eine rote Linie. Jetzt ist der Moment, an dem die internationale Gemeinschaft handeln muss – für die Opfer, für das Recht, für die Zukunft Syriens.