
In der vergangenen Woche kam es in mehreren drusisch geprägten Gebieten Syriens zu schweren gewaltsamen Auseinandersetzungen, die meisten der mehr als 100 Todesopfer waren Angehörige bewaffneter Gruppen und Sicherheitskräfte. Oberflächlich gilt eine blasphemische Audioaufnahme als Auslöser, in der der Prophet Mohammad beleidigt und die einem drusischen Geistlichen zugeschrieben wurde. Die beschuldigte Person und das syrische Innenministerium bezeichneten sie als eine Fälschung. Die Verbreitung des Clips führte dennoch zu massiven Spannungen, Angriffen auf u. a. drusisch geprägte Orte wie Jaramana und Sahnaya sowie zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen lokalen Kämpfern und regierungsnahen Gruppen. Die Situation eskalierte, bis sich drusische Führer bereit erklärten, offizielle Sicherheitskräfte der Übergangsregierung in ihre Gebiete zu lassen, was zu einer vorläufigen Beruhigung führte.
Dazu griff Israel erneut syrisches Gebiet an, unter anderem in der Nähe des Präsidentenpalasts in Damaskus. Israel erklärte die Luftschläge als Reaktion auf die Bedrohungen für die drusische Gemeinschaft. Die Einmischung gilt in Syrien u. a. als Versuch, die Drus*innen politisch zu isolieren und das ohnehin fragile Machtgefüge gezielt weiter zu destabilisieren. Diese Entwicklung trägt zudem zu gefährlichen Generalisierungen gegenüber der drusischen Bevölkerung bei, was die Gewaltspirale und gesellschaftliche Spaltung weiter befeuert. Zwar konnte ein Abkommen zwischen der Übergangsregierung und drusischen Führern die unmittelbaren Kämpfe beenden, doch die Unsicherheit bleibt allgegenwärtig im Süden Syriens.
„Im Moment sind wir noch in Sicherheit – aber ich weiß nicht, wie lange das so bleiben wird. Vielleicht sind wir schon bald wieder in Gefahr.“
Stimme aus Suweida
Vier Erkenntnisse
Angesichts der jüngsten Gewalteskalation wächst die Sorge vor einer weiteren Spaltung des Landes – nur fünf Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes. Die Ursachen und Dynamiken der aktuellen Entwicklungen sind komplex und vielschichtig. Dennoch lassen sich aus den Ereignissen der vergangenen Zeit vier Erkenntnisse ableiten:
1. Konfessionelle Gewalt bedroht den sozialen Frieden und die Stabilität Syriens
Die Sicherheitslage in Syrien bleibt fünf Monate nach dem Sturz Assads äußerst angespannt. In beunruhigendem Tempo breitet sich konfessionelle Hetze aus – u. a. von außen online geschürt – und mündet zunehmend in kollektiven Strafmaßnahmen gegen religiöse Gemeinschaften.
„Desinformation und konfessionelle Narrative spielen eine zentrale Rolle bei der Eskalation – sie sind sogar der Hauptfaktor, der uns zu der aktuellen Gewalt geführt hat.“
Mohammed Shakerdy, vom Zivilen Zentrum Atareb
Extremistische Narrative werden gezielt eingesetzt, um gesellschaftliche Bruchlinien zu vertiefen. Die Folge: immer mehr Gewalttaten gegen Minderheiten, gegenseitiges Misstrauen und die reale Gefahr, dass sich religiös motivierte Gewalt dauerhaft im neuen Syrien etabliert. Verschiedene Beobachtungen deuten darauf hin, dass externe Akteure gezielt bestehende gesellschaftliche Bruchlinien verstärken wollen – etwa durch die bewusste Instrumentalisierung religiöser Zugehörigkeiten oder die Verbreitung polarisierender Narrative. In diesem Zusammenhang entsteht der Eindruck, dass konfessionelle Spannungen nicht nur Ausdruck innerer Konflikte sind, sondern auch als Hebel für geopolitische Einflussnahme genutzt werden könnten – mit dem Ziel, Syrien langfristig zu schwächen und gesellschaftlich zu zersplittern.
2. Die Untätigkeit der neuen Regierung ist fatal
Trotz der Eskalation fehlt es an klaren Signalen der neuen Führung. Der Präsident Ahmed al-Sharaa schweigt weitestgehend zur konfessionellen Gewalt, anstatt sie eindeutig zu verurteilen oder politisch und juristisch zu adressieren. Auch ein übergeordnetes Konzept für Übergangsjustiz, etwa zur Aufarbeitung der Gräueltaten der letzten 14 Jahre, ist bislang nur skizziert. Besonders deutlich zeigt sich dieses Versäumnis in der Region um die Küste, wo die Aufarbeitung der dortigen Massaker kaum vorankommt. Diese Passivität sendet ein verheerendes Signal – nicht nur an die Opfer, sondern auch an Täter und extremistisches Umfeld: Sie müssen kaum Konsequenzen fürchten. So bleibt das Vakuum bestehen, in dem sich Hass und Gewalt weiter ausbreiten können.
3. Die anhaltende Straflosigkeit ist ein Katalysator für neue Gewalt
Die systematischen Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit müssen dringend aufgearbeitet werden. Die Abwesenheit von Gerechtigkeit wirkt wie ein offener Bruch in der gesellschaftlichen Struktur Syriens. Opfer fühlen sich alleingelassen, Täter werden kaum zur Rechenschaft gezogen. Ohne einen glaubwürdigen Mechanismus für Übergangsjustiz droht Syrien nicht nur seine Vergangenheit unaufgearbeitet zu lassen, sondern sich in einer Endlosschleife von Gewalt zu verlieren.
„Aktuell geht es auch darum, die Angreifer zur Rechenschaft zu ziehen, die in den vergangenen Tagen Verbrechen begangen haben – sowohl gegen Drus*innen als auch gegen Alawit*innen.“
Stimme aus Suweida
4. Syrien steht an einem entscheidenden Wendepunkt
Die nächsten Monate könnten entscheidend sein: Die Bevölkerung ist gespalten zwischen Hoffnung auf ein neues Kapitel und Angst vor neuen Gewaltausbrüchen. Während in Teilen des Landes vorsichtiger Optimismus herrscht, leben andere Regionen bereits wieder in Angst und Terror. Die zentrale Herausforderung: ein entschlossenes, glaubwürdiges staatliches Handeln gegen Extremismus, konfessionelle Hetze und das Erbe der Gewalt. Nichtsdestotrotz ist das Projekt Syrien in Gefahr, wenn konfessionelle Spannungen weiterhin als Spielball geopolitischer Interessen ausgenutzt werden – mit dem Ziel, Syrien langfristig zu schwächen und gesellschaftlich zu zersplittern.
Wege aus der Eskalation: Gegen Hass, für Dialog und Einheit
Die Gewalt ist nicht nur physisch spürbar – sie wirkt tief in das gesellschaftliche Gefüge hinein. Was Syrien jetzt braucht, ist eine klare Haltung gegen jede Form von konfessionellem Hass und bewusste Schritte in Richtung Dialog und Verständigung. Die Regierung steht ganz klar in der Verantwortung. Eine umfassende staatliche Strategie zur Eindämmung von konfessioneller Hetze und dem Einfluss bewaffneter Milizen ist dringend notwendig.
Doch während die Regierung ihrer Verantwortung bislang kaum gerecht wird, füllen andere das Vakuum. Die syrische Zivilgesellschaft hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie überkonfessionell handeln kann – ihre Arbeit ist unerlässlich. „Der einzige Weg für Syrien ist der Dialog“, betont unser Partner Mohammed Shakerdy. Zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter unsere Partner*innen, haben in den vergangenen Jahren unermüdlich für Dialogkultur, Toleranz und gesellschaftliches Miteinander gekämpft. Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Sie waren es, die sofort nach dem Sturz des Assad-Regimes kreuz und quer durchs Land gereist sind, um nach Jahren der erzwungenen Trennung einander kennenzulernen und sich zu vernetzen. Und genau darin liegt ihre Stärke.

Während offizielle Stellen oft zögern oder versagen, sind es zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die Verantwortung übernehmen: Sie reisen nach Gewalteskalationen – wie jüngst an der Küste – in betroffene Regionen, vermitteln zwischen Gruppen, hören zu und schaffen Vertrauen. Dabei geht es nicht nur um akute Hilfe, sondern um den langfristigen Aufbau eines sozialen Friedens.
Es sind auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die die Verbrechen von heute und damals dokumentieren und Accountability fordern. Sie stehen an der Seite von Angehörigen der Zehntausenden Vermissten. Sie bieten psychosoziale Hilfen für alle jene, die die Gewalt der vergangenen Jahre verarbeiten müssen. Und sie bewahren die Hoffnung: „Die Einheit Syriens ist der Traum, den wir mit jedem Wort, das wir sagen, schreiben oder äußern, zu bewahren versuchen“, sagt Shakerdy.
Die Zivilgesellschaft Syriens ist widerstandsfähig, kreativ und verbindend. Ihre Netzwerke sind tragfähig – auch in Krisenzeiten. Sie arbeitet täglich daran, die Vision eines geeinten, demokratischen und vielfältigen Syriens Realität werden zu lassen. Und damit wird deutlich: Syrien braucht seine Zivilgesellschaft – und sie ist heute vielleicht wichtiger denn je.