Seit heute dürfen keine UN-Hilfslieferungen mehr über türkische Grenzübergänge nach Syrien gehen, sondern müssen über das Assad-Regime in Damaskus abgewickelt werden. Dazu kommentiert Ferdinand Dürr, Geschäftsführer der deutsch-syrischen Menschenrechtsorganisation Adopt a Revolution:
„Das Überleben von mindestens 2,8 Millionen Menschen hängt unmittelbar an den internationalen Hilfslieferungen. Russland ist offenbar jedes Mittel recht, das Assad-Regime zu stärken, auch wenn es Hunger, Leid und fehlende medizinische Versorgung inmitten der COVID-19-Pandemie bedeutet. Wenn die Vetomacht Russland die UN in Nordwest-Syrien zur Handlungsunfähigkeit verdammt, müssen die Geberländer darauf reagieren: Statt über die UN muss die Bundesregierung humanitäre Hilfe jetzt über unabhängige Kanäle nach Nordwest-Syrien bringen, um die Hilfsbedürftigen zu retten.“
Bei der Syrien-Geberkonferenz vor knapp zwei Wochen hatte die Bundesregierung über 1,5 Milliarden Euro an Hilfe zugesagt, wobei der größte Teil für UN-Organisationen bestimmt ist. Diese Hilfe wird jetzt nicht mehr bei den Bedürftigsten im Land ankommen, wenn die Mittel nicht an andere NGOs umgeleitet werden. Bereits Anfang des Jahres wurden zwei von bis dahin vier Übergänge wegen der Vetos von Russland und China geschlossen, darunter der Übergang al-Jarubia, über den die kurdisch-dominierten Regionen Nordost-Syriens versorgt wurden. Für rund zwei Millionen Menschen in der Region hat sich die Versorgungslage daraufhin deutlich verschlechtert.
Stimmen aus Idlib zum Ende der humanitären UN-Hilfe
“Ein Großteil der Menschen in Idlib lebt unter der Armutsgrenze“, berichtet unser Partner Mohamad Shakerdy aus Atareb in Idlib. „Ihr Überleben hängt unmittelbar an den Hilfslieferungen. Wir können darauf nicht verzichten – aber das System muss dringend geändert werden. Die Art und Weise wie bisher humanitäre Hilfe in Syrien geleistet wird, hat dazu geführt, dass wir einem Lebensmittelpaket hinterherrennen müssen. Dabei ist die eigentliche Ursache des Problems, nämlich die Angriffe durch das Assad-Regime, völlig aus dem Fokus geraten.”
Unsere Partnerin Souad aus Idlib-Stadt ergänzt: “Der Stopp der Hilfslieferungen hat zwei direkte dramatische Auswirkungen für die Zivilbevölkerung: Viele Menschen haben ohne Unterstützung keine Möglichkeit mehr zu überleben. Gleichzeitig steigen die Preise auf dem lokalen Markt rapide an und verschärfen den Überlebenskampf massiv.“ Deshalb fordert sie: „Die UN muss ein Büro in Idlib eröffnen und Hilfen basierend auf einer echten Bedarfsanalyse liefern. Das hieße nämlich tatsächlich, dass statt Hilfen zu stoppen, diese um ein vielfaches erhöht werden müsste.”
Corona-Pandemie verschärft die Lage
Die Zeit zu Handeln ist für die Geberstaaten allerdings knapp: Nach einem ersten bestätigten COVID-19-Fall am vergangenen Donnerstag wurde die Infektion zweier weiterer Ärzte des Krankenhauses in Bab al-Hawa bestätigt. Damit wächst die Gefahr, dass sich auch Patient*innen angesteckt haben.
Heute setzen Partner*innen von Adopt a Revolution die Verteilung von Hygienepaketen in den informellen Flüchtlingslagern rund um die Stadt Bab al-Hawa fort.
In Idlib leben rund vier Millionen Menschen auf engstem Raum. Über 1,5 Millionen von ihnen sind Binnenvertriebene. Sie harren dicht gedrängt in Flüchtlingslagern und zum Teil im Freien aus. Dem Corona-Virus haben sie nichts entgegenzusetzen. Ohne humanitäre Hilfe haben sie keine Überlebenschancen.