
Syrien steht vor einem historischen Moment. Im September sollen die ersten Parlamentswahlen nach dem Sturz des Assad-Regimes stattfinden. Eine Zäsur nach 54 Jahren autoritärer Herrschaft. Die Übergangsbehörden inszenieren die Wahl als weiteren Schritt im Staatsaufbau: Nach nationaler Dialogkonferenz, Verfassungserklärung und Übergangsregierung nun das Parlament.
Doch der Aufbruch ist brüchig. Das Land ist von Krieg gezeichnet, Millionen sind vertrieben, die Wirtschaft liegt am Boden. Die politische Kultur wurde jahrzehntelang systematisch zerstört. Und die Übergangsregierung ist spätestens seit den Massakern in Suweida bei vielen hoch umstritten; auch bei der Internationalen Gemeinschaft haben sie deutliche Risse im Vertrauen hinterlassen. Für viele Syrer*innen stellt sich deshalb nicht nur die Frage, wer gewählt wird. Sondern ob diese Wahl überhaupt mehr sein kann als ein neuer Versuch, Macht zu legitimieren.
Internationale Beobachtung und die Illusion der Transparenz
Freie und faire Wahlen sind ein Kernelement der Demokratie. Entsprechend dürften die syrischen Parlamentswahlen international zweifellos als Maßstab für einen erfolgreichen Übergangsprozess herangezogen werden.
Die syrische Übergangsregierung scheint sich der Tragweite bewusst: Das Oberste Komitee für Wahlen zur Volksversammlung kündigte Transparenz und Integrität an. Es soll einen umfassenden Plan geben, der sowohl die Überwachung durch syrische als auch internationale Organisationen sicherstellt. Maßnahmen wie diese sind bitter nötig, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Wahlinstitutionen nach Jahrzehnten von Scheinwahlen unter Assads Herrschaft wieder aufzubauen.
Doch zugleich steckt in der möglichen späteren Bewertung der Wahlen als „erfolgreich“ ein grundlegendes Problem: Internationaler Beifall könnte einen zutiefst undemokratischen Wahlprozess legitimieren. Ein Auswahlspektakel, dessen strukturelle Mängel eigentlich offen benannt werden müssten, droht als internationaler Legitimitätsbeweis durchzugehen.
Strukturelle Mängel und Ausschlüsse
Denn der Schein demokratischer Reformen trügt. Das geplante Wahlsystem verfolgt zwar bewusst keinen Anspruch auf Repräsentativität: Laut dem Obersten Komitee für Wahlen sollen die Abstimmungen vor allem einen Übergangs- und Legislativcharakter erfüllen, um ein funktionsfähiges Parlament zu schaffen, solange die Infrastruktur für echte Direktwahlen fehlt.
Diese pragmatische Ausrichtung hat Konsequenzen: Die Gewaltenteilung ist faktisch ausgehebelt. Übergangspräsident Ahmad Al-Sharaa kann ein Drittel der 210 Parlamentsmitglieder direkt ernennen, die übrigen zwei Drittel werden von Gremien bestimmt, deren Zusammensetzung er maßgeblich beeinflusst. Vage Formulierungen im Wahlgesetz wie „Befürworter von Spaltung“ erlauben, politische Gegner*innen ohne rechtsstaatliche Standards auszuschließen. Transparenz und Inklusion bleiben damit leere Versprechen.
Zudem wird die Bevölkerung weitgehend aus dem Wahlprozess ausgeschlossen. Die Mehrheit darf nicht direkt wählen, sondern muss zusehen, wie handverlesene Komitees ein Parlament zusammenstellen, das in erster Linie den Übergangsprozess sichern soll. Technokraten und Akademiker dominieren, die Zivilgesellschaft ist außen vor. Unter diesen Bedingungen droht ein homogener, elitärer und regierungsnaher Legislativkörper, der kaum die gesellschaftliche Vielfalt abbildet.
Hinzu kommt die Verschiebung der Wahlen in Suweida, Raqqa und Hassaka, also in Gebieten, die mehr als ein Drittel des Landes ausmachen. Millionen Menschen bleiben von der ersten Abstimmung ausgeschlossen, die Sitze solange reserviert, bis „sichere Bedingungen“ herrschen. Die sozialen und politischen Brüche Syriens vertiefen sich dadurch weiter.
Die Konsequenzen sind weitreichend. Das zukünftige Parlament wird Gesetze erlassen, die die Grundlage politischer Partizipation definieren – vom Parteiengesetz über Regelungen zu Gewerkschaften bis hin zur Rolle der Zivilgesellschaft. Wer in diesem Parlament sitzt, entscheidet maßgeblich, ob Syrien den Weg zu einem inklusiven, demokratischen Staatsgefüge findet oder ob die Chancen auf politische Mitbestimmung von Beginn an verbrannt werden.
Doch große Teile der Bevölkerung bleiben ausgeschlossen: Ganze Regionen, im Ausland lebende Syrer*innen, bildungsferne Bürger*innen, Frauen (mit einer Quote von nur 20 Prozent) sowie weitere marginalisierte Gruppen sind unterrepräsentiert oder gar außen vor. Am Ende steht die bittere Erkenntnis: Dieses Parlament könnte sich als Instrument der Machtkonsolidierung entpuppen, nicht als Geburtshelfer echter Demokratie.
Internationale Legitimität ist kein Ersatz für Demokratie
So nachvollziehbar der Fokus der Machthaber im Frühjahr war, internationale Anerkennung zu gewinnen, ersetzt externe Legitimität keinen echten, inklusiven demokratischen Prozess im Innern. Ein wohlwollendes Abnicken der Wahlen durch die Internationale Gemeinschaft könnte die Inszenierung des Staatsaufbaus der Übergangsregierung weiter bestärken. Doch politische Legitimität entsteht nicht (allein) von außen – sie muss im Land selbst verankert werden. Die Forderung nach echter Beteiligung darf daher nicht verhallen. In Syrien muss eine politische Kultur entstehen, die den performativen Maßnahmen der aktuellen Übergangsregierung Kontra bietet, Transparenz und repräsentative Entscheidungsfindung einfordert und ein inklusives Regierungsmodell durchsetzt.
Erst wenn alle Syrer*innen direkt wählen können, Frauen und Minderheiten angemessen repräsentiert sind und politische Partizipation keine Ausnahme bleibt, werden die Wahlen echte Wahlen sein. Alles andere bleibt Inszenierung.