Auf den ersten Blick scheint Daesh (IS) eine weitaus größere Gefahr als das syrische Regime darzustellen. Dies ist ein Trugschluss. Nichtsdestotrotz müssen wir uns fragen, wie es überhaupt zu Daesh kommen konnte: Was sind die Rahmenbedingungen für das Auftauchen und Erstarken dieser Bewegung?
Mit Ausbruch der Revolution [im März 2011] hatte das syrische Volk die Mauer der Angst eingerissen, mit deren Hilfe sich das Regime an der Macht halten konnte; jene Mauer, in der das Regime das Volk gefangen hielt. Mit der Revolution begann eine friedliche Bewegung gegen das syrische Regime.
Damals hat das Assad-Regime eins genau gewusst: Der einzige Weg, an der Macht zu bleiben, besteht darin, eine neue Mauer der Angst zu errichten. Noch mehr Gewalt, eine Steigerung des Terrors, die Zurechtweisung der Revolutionäre – sei es die Verfolgung von Studierenden, Anwälten, Ärzten, schlicht allen Intellektuellen in ihrer Rolle als „Vordenker des Volkes“. Sie wurden in die finsteren Gefängnisse geworfen und der Folter ausgesetzt. Ihnen sollte auch körperlich ein Ende bereitet werden.
Als sich die Revolution militarisierte und weite Landesteile Syriens sich unter Kontrolle der bewaffneten Opposition befanden, hatte Assad letztlich einen Vorwand für den täglichen Massenmord an Zivilisten gefunden. Er setzte fortan auf den gesamten Militärapparat, die Armee und jegliche ihm zur Verfügung stehenden Waffen. Die explodierenden Fassbomben, auch „Fässer des Todes“ genannt, waren in diesem Kontext die bislang letzte Erfindung: Mit Sprengstoff gefüllte Fässer – mit einem Gewicht von 500 oder gar 1000 Kilogramm – werden aus der Luft willkürlich auf dichtbesiedelte Wohngebiete abgeworfen, um die größtmögliche Zahl an Zivilisten zu töten.
Allerdings hat das Regime im Kampf gegen die Revolution nicht allein auf außerordentliche Gewalt gesetzt, begann es doch direkt nach Ausbruch der Proteste einen „ideologischen Krieg“. Uns wurde gesagt „Entweder ich oder die Alternative: die Radikalen“, genau wie „Entweder ich oder die Zerstörung Syriens“. Beides bedeutet ganz einfach: Entweder seid ihr für oder gegen mich!
Zudem hat das Regime der Welt eine einfache Botschaft hinterlassen: Zum syrischen Volk passe nur eine Militärdiktatur. Die Demokratie, welche im Westen funktioniere, könne in Syrien noch nicht greifen, da wir eine andere Gesellschaft seien. Eine Gesellschaft im „vormodernen“ Stadium, noch „vor der Zivilisation“.
Die gleiche Botschaft richtete das Regime auch an uns Syrer. Dass wir nicht fähig seien zum Wandel, nicht fähig, das Modell des modernen, zivilen Rechtsstaates umzusetzen, der die allgemeinen Grundrechte aufrechterhält und den syrischen Individuen das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe zugesteht. Soll heißen: Demokratie funktioniert in Syrien nicht, es braucht eine harte Hand, die führt.
Diese vom Regime stetig vorgebrachten Äußerungen – etwa über den „extremistischen“ Charakter der Revolution – blieben im Land nicht ohne Folge. Die Schreckgespinste des „Extremismus und Terrorismus“, die zu Beginn der Revolution nicht vorhanden waren, sind mittlerweile zu einer festen Größe in Syrien geworden.
Für jene, die es nicht wissen: Der Geheimdienststaat der Assads hat weitreichende Erfahrung darin, radikale terroristische Kräfte hervorzubringen und sie in andere Staaten auszusenden, um regional eine dem syrischen Regime nützliche Agenda durchzusetzen. So ist das syrische Regime der Hauptunterstützer der libanesischen Hisbollah, der einzigen Partei, die im Libanon ein Arsenal von Waffen aufrechterhält – und so die Bezeichnung „Staat im Staate“ erworben hat.
Seit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen im benachbarten Irak und dem Sturz Saddam Husseins gab es zahlreiche Anklagen gegen das syrische Regime, dass es Radikale rekrutieren und zum Kampf in den Irak schicken würde.
Damals wurde in Aleppo, genauer gesagt im Viertel Al-Sakhur, ein Geistlicher namens „Abo al-Qa’qaa“ zum Imam einer lokalen Moschee bestimmt, der von der Kanzel zum „Heiligen Jihad“ und zum Kampf gegen die Amerikaner im Irak aufrief. Abo al-Qa’qaa hatte gar Trainingslager für junge Männer aufgebaut, in denen sie ideologisch aufgehetzt und für den Kampf im Irak geschult wurden.
Es stellt sich daher die drängende Frage, wie dies – vor dem Hintergrund eines Polizeistaates – seitens des Assad-Regimes zugelassen werden konnte. Man kann nur zu dem Schluss kommen, dass es das Assad-Regime selbst war, das die Taten Abo al-Qa’qaas autorisierte.
Abo al-Qa’qaa wurde schließlich unter mysteriösen Umständen in Aleppo ermordet. Zudem verhaftete das Regime nach dem Ende des Irakkriegs alle jene Kämpfer, die aus dem Land nach Syrien zurückkehrten. Doch sind sie genau dieselben, die das Regime just im ersten Jahr der Revolution freigelassen hat, begleitet von vielen Fragezeichen. Warum hat das Regime also ausgerechnet zu dieser Zeit diese Gefangenen freigelassen?
Zweifelsfrei verfolgte das Regime zuvor durch die Unterstützung der Hisbollah und jener Al-Qaida-Extremisten, die sie in den Irak entsendet hatten, mehrere Agenden. Doch das dominierende Motiv ist, dass jegliches demokratische Experiment – sei es im Irak oder Libanon – scheitern sollte. Denn der Erfolg des demokratischen Aufbruchs im Irak hätte sich – aus Sicht der herrschenden syrischen Baath-Partei – unmittelbar negativ auf Syrien ausgewirkt.
Es besteht auch kein Zweifel, dass jeglicher Erfolg eines demokratischen Aufbruchs im multikonfessionellen Libanon einen unmittelbaren Einfluss auf Syrien haben würde. Wäre die libanesische Gesellschaft in der Lage, die politischen Spaltungen zu überwinden und einen zivilen Staat aufzubauen, würde das Vertrauen der Syrer in einen demokratischen Wandel erheblich steigen. Genau das möchte das syrische Regime unbedingt verhindern: den Glauben an einen zivilen, demokratischen Staat auch in Syrien.
Aktuell sind viele Syrer überzeugt, dass es eine Verbindung zwischen Daesh und dem syrischen Regime gibt. Andere machen die internationale Gemeinschaft für die Entstehung Daesh‘s und ihren rasanten Aufstieg in Syrien verantwortlich: Daesh sei das Ergebnis des Krieges und der anhaltend instabilen Lage im Land. Die internationale Gemeinschaft habe versagt, Verantwortung in Syrien zu übernehmen, um den Konflikt zu beenden. Jener Teil der syrischen Gesellschaft beklagt das Scheitern der internationalen Gemeinschaft, das mittlerweile vierjährige Streben der Syrer nach Freiheit und einem Ende der Unterdrückung zu unterstützen.
Wir Revolutionäre befinden uns heute in der doppelten Konfrontation mit dem Regime und Daesh. An dieser Aufgabe haben wir schwer zu tragen, gerade in Hinblick auf die von uns herbeigesehnte Veränderung. Immer noch sind wir im Ringen nach Freiheit mit dem Regime konfrontiert, das in einem ungleichen Kampf alles mobilisiert, um diese Revolution auszulöschen.
Doch müssen wir zuallererst uns selbst und unserem Volk beweisen, dass wir die Freiheit verdient haben, für die wir uns aufopfern. Dass wir fähig sind, uns vom diktatorischen Regime zu befreien und ein demokratisches System aufzubauen, das – in einem zivilen Staat – für alle Bürger Syriens Freiheit, Würde, Menschlichkeit und soziale Gerechtigkeit ermöglicht. Ein Staat, der alle Bürger in Rechten und Pflichten vor dem Gesetz gleichstellt.
Was uns durchhalten lässt, ist der Glaube an uns selbst, an unsere Ziele und Träume für ein zukünftiges Syrien. Wir wissen ganz genau: In dem Moment, in dem wir diesen Glauben verlieren, würden wir Syrien weitere Jahrzehnte der Dunkelheit von Despotie und Rückständigkeit überlassen.
Übersetzung aus dem arabischen Original: Adopt a Revolution
Zum Autor: Der Aktivist Moataz Hamoudeh stammt aus Aleppo und ist Teil der politischen Bewegung „Syria Future Youth“, die sich in mehreren Bereichen engagiert. Einen Schwerpunkt der Arbeit bildet die Stärkung der Zivilgesellschaft und ihrer Institutionen, gerade auch in Hinblick auf die gegenwärtige Situation im Land. Den Facebookauftritt der Gruppe „Syria Future Youth“ finden Sie hier. Hamoudeh lebt und arbeitet weiterhin in Aleppo.
Seit 2011 unterstützt Adopt a Revolution lokale Komitees und zivile Projekte in Syrien. Wir stehen auch weiterhin an der Seite der unbewaffneten syrischen AktivistInnen. Helfen Sie mit, Projekte der Zivilgesellschaft – als demokratische Alternative zu Regime und IS – zu unterstützen!