Türkische Angriffe auf Ain Issa: Fakten schaffen vor dem US-Machtwechsel

Seit Ende November greifen türkische Soldaten und von der Türkei finanzierte Milizen die von kurdischen Einheiten kontrollierte Stadt Ain Issa in Nordsyrien an – und brechen damit einen in Sotschi ausgehandelten Waffenstillstand. Mindestens 10.000 Menschen sollen vor den Angriffen bereits geflohen sein. Ziel der Türkei ist wohl eine wichtige Verbindungsroute und das Schaffen von Fakten vor dem Machtwechsel in den USA.

Was ist das Ziel des türkischen Angriffs auf Ain Issa?

Nach ihrer militärischen Intervention in Nordost-Syrien im Oktober 2019 hatte die Türkei mit Unterstützung islamistischer Milizen einen 120 km langen und 30 km breiten „Sicherheitskorridor“ auf syrischem Gebiet entlang ihrer Grenze eingerichtet. Nun scheint die Türkei auch die durch Ain Issa verlaufende Schnellstraße M4 einnehmen oder zumindest den Verkehr dort unterbrechen zu wollen. Die Straßenverbindung gilt als Lebensader in Nordsyrien und ist wichtig für Versorgung und Handel in den Gebieten unter kurdischer Kontrolle. Die Türkei hat in bisher drei Interventionen in Syrien versucht, ein kurdisches Autonomieprojekt zu verhindern: Im Sommer 2016 mit „Operation Euphrates Shield“, im Januar 2018 mit „Operation Olivenzweig“ und schließlich im Oktober 2019 mit „Operation Friedensquelle“ . Dabei setzt sie auch auf von ihr finanzierte islamistische Milizen, die – wie erst im September 2020 von der UN-Untersuchungskommission zu Syrien bestätigt – dabei auch mit Plünderungen, Vergewaltigungen und Folter vorgehen.

Welche Rolle spielt die Türkei in Nordsyrien?

Der türkische Präsident Erdogan hat eine Verhinderung jeglicher kurdischer Autonomiebestrebungen – auch in Syrien – als Ziel ausgegeben. Militärische Interventionen nutzt Erdogan dabei auch, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Teile Nordsyriens sind inzwischen quasi türkisches Protektorat. Selbst türkische Banken oder die türkische Post operieren dort. Zivile Aktivist*innen berichten, dass türkische Institutionen versuchen, das gesamte öffentliche Leben zu dominieren. Dabei drangsalieren von der Türkei unterstützte islamistische Milizen, insbesondere die Syrische Nationale Armee (SNA) jede emanzipatorische oppositionelle Regung. Der Einsatz von Milizen ermöglicht es der Türkei, die Verantwortung für Verbrechen abzuwälzen und keine Verpflichtungen einer Besatzungsmacht einzugehen. Türkische Politiker brachten immer wieder die Ansiedlung (überwiegend arabischer) Flüchtlinge aus der Türkei (in überwiegend kurdischen Siedlungsgebieten) in Syrien ins Spiel.

Angriff auf das Getreidesilo bei Ain Issa

Zudem hat die Türkei nach dem Flüchtlingsdeal mit der Europäischen Union ihre Grenze nach Syrien weitgehend abgeriegelt. Millionen von Flüchtlingen sitzen so in Nordsyrien fest. Die (mehrheitlich arabische) Bevölkerung der Region Idlib erhofft sich deshalb von der Türkei einen gewissen Schutz: Türkische Beobachtungsposten sollen eine Offensive des Assad-Regimes und seiner russischen Verbündeten verhindern. Ihrer Verpflichtung gegenüber Russland, für die Entwaffnung der islamistischen HTS-Miliz in Idlib zu sorgen, ist die Türkei jedoch nicht nachgekommen.

Warum erfolgt der Angriff ausgerechnet jetzt?

Scharmützel zwischen türkischen und kurdischen Einheiten sind bereits länger an der Tagesordnung. Doch mit dem Übergang zwischen den US-Präsidenten Trump und Biden scheint sich für das türkische Militär eine Möglichkeit zu bieten, Fakten zu schaffen. Die USA unterstützen die kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) beim Kampf gegen den so genannten „Islamischen Staat“ – während der türkischen Offensive im Oktober 2019 hielt sich das US-Militär jedoch zurück, obwohl das Rückschläge im Kampf gegen den IS bedeutet hatte. Donald Trump soll damals in einem Telefonat der Intervention zugestimmt haben. Die Entwicklungen in Syrien werden wahrscheinlich nicht hoch auf der Agenda von Joe Biden stehen, jedoch wird ihm nachgesagt, sich für eine diplomatische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts einsetzen zu wollen.

Wer profitiert vom türkischen Angriff auf Ain Issa?

Aufgrund der mangelnden Unterstützung durch die USA während der türkischen Offensive vom Oktober 2019 sah sich die kurdische Selbstverwaltung damals gezwungen, russische Unterstützung anzunehmen. Das russische Militär errichtete – auch in der Nähe von Ain Issa – Basen und Kontrollstellen, um mittels gemeinsamer türkisch-russischer Patrouillen den Waffenstillstands zu kontrollieren. In deren Gefolge errichtete auch das syrische Militär Kontrollstellen in der Region. Im Zuge der aktuellen Eskalation ergänzte das russische Militär durch weitere Außenstellen rund um Ain Issa seine Präsenz, auch weitere Soldaten der syrischen Armee wurden dort stationiert.

Nachdem Russland im September 2015 in Syrien interveniert war, hatte die russische Armee dem Assad-Regime die Rückeroberung großer Teile des Landes ermöglicht. Die Ausweitung des russischen Einflusses in Gebieten unter Kontrolle des US-Verbündeten SDF stärkt damit letztlich das Assad-Regime. Beobachter*innen gehen deshalb davon aus, dass den Angriffen auf Ain Issa eine Vereinbarung zwischen Russland und der Türkei vorausgegangen war die das Ziel verfolgt, die Position der kurdischen Kräfte und damit indirekt der USA in der Region zu schwächen.

Protestzug in Ain Issa

Wie reagieren die Bewohner*innen?

Zunächst verbreitete das Bombardement der Stadt Furcht vor einem Einmarsch der türkisch-unterstützten islamistischen Milizen unter den Bewohner*innen von Ain Issa, von denen rund 10.000 Menschen flohen. Anders als im Oktober 2019 gibt es diesmal jedoch noch keine Berichte über die Flucht von Häftlingen des nahe Ain Issa gelegenen Gefangenenlagers für IS-Anhänger*innen. Auf Videos in Sozialen Medien sind Proteste von Bewohner*innen zu sehen, die vom russischen Militär ein Eingreifen verlangen, um die türkischen Angriffe zu beenden. Viele der Menschen in der Region fürchten zugleich, dass die Türkei die Phase des Machtwechsels in den USA nutzen könnte, weiter militärisch Fakten zu schaffen.

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