Unter freiem Himmel: Menschen auf der Flucht in Idlib

Verzweifelte Weihnacht

Unsere Partner*innen in Idlib berichten uns von der Massenflucht aus Süd-Idlib, von Luftangriffen auf Flüchtende und der katastrophalen Versorgungslage. Unsere Bitte: Helfen Sie mit einer Spende, damit unsere Partner*innen helfen können.

Unter freiem Himmel: Menschen auf der Flucht in Idlib

Seit Tagen nimmt die Verzweiflung der Menschen in Idlib zu. Wir haben mit vielen unserer Partner*innen gesprochen. Sie bitten uns um Unterstützung für ihre Hilfen für Fliehende und darum der Welt mitzuteilen, was ihnen widerfährt.

Souads Sprachnachrichten aus Idlib-Stadt

Während Souad mir Sprachnachrichten schickt, hört man im Hintergrund das Schreien ihres neugeborenen Kindes. Souad ist selber vor Monaten aus ihrer Heimatstadt Kafranbel geflohen und hat seitdem nicht nur in Idlib ihre feministische Frauenarbeit fortgesetzt, sondern unermüdlich andere Geflüchtete in den Lagern unterstützt.

Sie schickt mir Bilder und Videos und erzählt in den Sprachnachrichten, wie die Situation ist: “Das hier ist die Realität” sagt sie.

Das Bild zeigt  Menschen auf Decken in einem Feld. Das Wetter ist sichtlich kalt. “Die Menschen hier brauchen alles: Decken, Essen… einfach alles. Wenn du überstürzt flüchten musst, dann hast du nichts dabei.” Die Angriffe des Assad-Regimes und Russlands auf Maraat al Numan haben in der Vorweihnachtszeit eine Massenflucht ausgelöst.

Die Angriffe gingen auch gestern, am 24.12.2019, weiter.

Souad schickt mir weitere Bilder, Menschen am Straßenrand in der Stadt Idlib, Autokolonnen. Aber dann sagt sie auch noch das hier: “Ich wünsche euch ein gesegnetes Fest und viel Gesundheit fürs neue Jahr. Ich hoffe, für uns alle zu diesem Fest, dass wir in Sicherheit leben werden.”

“Ich und meine Freund*innen haben diese Bilder aufgenommen. Wenn ich die Menschen fotografiere, dann fühle ich mich ohnmächtig. Ich fotografiere sie, aber ich kann nichts für sie tun. Jeden Tag verlasse ich das Haus, um diese Menschen zu unterstützen. Meine neugeborene Tochter – sie ist 1 Monat und 20 Tage alt – ist Gott sei Dank nicht so schwierig und ist immer mit dabei. Ich habe ein Auto und kann deswegen diese Unterstützung leisten. 

Andere Menschen haben nichts, und sind einfach auf den Straßen. Ich habe ein Dach über dem Kopf, welches mich schützt, sie haben nichts, was sie schützt. Was auch immer ich tue – selbst, wenn ich täglich da draußen bin – ich fühle einfach nur Machtlosigkeit. Lass die Leute unsere Stimmen hören da draußen. Wir wollen keine humanitäre Hilfe. Wir wollen in unsere Häuser zurückkehren. Wir wollen, dass die Bombardierungen und der Beschuss aufhören.” 

Zu diesem Video, das lange Kolonnen von Fliehenden zeigt, sagt sie mir: “Ich habe das gefilmt, damit du das Gefühl hast, du bist neben mir im Auto. Das ist vom 22.12.2019. Die Menschen fliehen aus Maarat An Numan in Richtung Grenze. Die Route führt sie hier an der Stadt Idlib vorbei. Das sind die Autos, die noch vor der Stadt warten, um den Weg zu passieren. Die Menschen fliehen derzeit überall hin, wo sie glauben, nicht bombardiert zu werden.”

Verzweiflung auch in Atareb

Ich chatte auch mit Mohammed Shakrdy aus Atareb. Normalerweise ist sein Optimismus durch nichts zu erschüttern. Er ist ein langjähriger Partner, der das von uns unterstützte zivile Zentrum in Atareb leitet. Heute scheibt er: “Zum allerersten Mal fühlt sich meine Psyche erschöpft an. Gebt mir Hoffnung!”

Atareb liegt im Nordosten der Region, die aktuell massiv durch das Assad-Regime und Russland angegriffen wird. Hier kommen aktuell kaum Flüchtende an, denn die Stadt ist schon voll mit Flüchtenden. Gestern gingen dort Menschen auf die Straße und demonstrierten, sie fordern vor allem die Türkei auf, endlich Verantwortung für Idlib zu übernehmen. Idlib ist eigentlich eine “Deeskalationszone”, für die die Türkei im Rahmen des Astana-Prozesses eine Schutzverantwortung übernommen hat. 

Die Türkei soll mittlerweile Russland gebeten haben, die Offensive einzustellen oder deren Intensität zu mindern. Die russische Regierung gab angeblich an, sie setze sich gegenüber dem Assad-Regime ein, dass dieses seine Angriffe reduziere, könne das Regime aber nicht kontrollieren. Tatsächlich hat Russland längst so gut wie volle Kontrolle über das Assad-Regime.

Maraat al Numan hoffentlich fast menschenleer

Die Stadt Maraat al Numan gleicht mittlerweile einer Geisterstadt. Es ist zu hoffen, dass es mittlerweile möglichst viele Zivilist*innen aus der Stadt geschafft haben, bevor die Truppen Assads einmarschieren.

Die Stadt Maraat al Numan ist bekannt für eine widerständige Zivilgesellschaft, die sich massiv gegen die Assad-Diktatur aufgelehnt hat und zugleich über Jahre ebenso massiv gegen die Dschihadisten von HTS (ehemals Nusra-Front) protestiert hat, die seit Januar 2019 die Region weitgehend kontrollieren.

Menschen, die zivilen Widerstand geleistet haben oder dessen nur verdächtigt werden, hält das Assad-Regime für besonders gefährlich und verfolgt sie daher mit größter Brutalität. Allein die Herkunft aus Maraat al Numan kann Grund dafür sein, inhaftiert und gefoltert zu werden. Daher fliehen so gut wie alle Menschen aus der Stadt, um dem Zugriff des Regimes zu entkommen.

Das hier ist das Frauenzentrum der Organisation Women Now in Maraat als Numan, deren Arbeit wir sehr schätzen:

UN: Halber Tag zur Evakuierung

Was machen eigentlich die Vereinten Nationen? So gut wie nichts. Gestern wurden die in Maraat al Numan tätigen NGO informiert, dass es offenbar bis sechs Uhr Ortszeit die Gelegenheit gebe, die Stadt zu verlassen, ohne beschossen zu werden. Die Information erfolgte in einer auf englisch formulierten E-Mail, ganz so, als würden die vor Ort tätigen NGO noch reguläre Büroarbeit machen. Viele NGO hatten ihre Mitarbeiter*innen da bereits aus der Stadt beordert.