Berlin, 27. Januar. Obwohl der »IS« seit März 2019 als weitgehend militärisch besiegt gilt, konnte die Terrororganisation zuletzt mit dem Angriff auf das al-Sina‘a-Gefängnis in der Stadt Hasakah wieder eine komplexe Terroroperation durchführen. Mit mehreren Autobomben und rund 200 Kämpfern gelang es dem »IS«, das Gefängnis mit mindestens 3.500 inhaftierten »IS«-Anhängern über mehrere Tage unter seine Kontrolle zu bringen und tagelang zahlreiche Minderjährige als Geiseln zu nehmen. Angesichts dessen wirft das Ende des Bundeswehrmandats für Syrien die Frage auf, ob die Bundesregierung die angespannte Lage in Nordost-Syrien nicht unterschätzt.
»Gegen den »IS« braucht es viel mehr als militärische Maßnahmen. Die Bundesregierung muss sich jetzt in Nordostsyrien engagieren, um dem IS nachhaltig den Boden zu entziehen«, sagt Ferhad Ahma, Direktor von PÊL Civil Waves. Die Organisation ermöglicht mit Unterstützung von Adopt a Revolution Bildungs- und Jugendprojekte in den kurdischen Gebieten Syriens, darunter in Hasakah. »Nur durch Wiederaufbauhilfen, Unterstützung der Zivilgesellschaft, Hilfe für Binnenflüchtlinge und Deradikalisierungsprogramme kann der Nordosten Syriens langfristige Perspektiven entwickeln«, so Ferhad Ahma.
Ahma kritisiert, dass sich die Bundesregierung bisher mit Hilfen für den kurdisch geprägten Nordosten aus Rücksicht auf die Türkei zurückgehalten hat. »Wir erwarten, dass Außenministerin Annalena Baerbock die Haltung des Auswärtigen Amtes in dieser Frage umgehend ändert.«
»Um mit dem gefährlichen Erbe der »IS«-Herrschaft in Syrien umzugehen braucht Nordostsyrien dringend Unterstützung, die der Region bisher versagt wurde«, kritisiert Ferdinand Dürr, Geschäftsführer von Adopt a Revolution. »Selbst wenn die Änderung des Bundeswehrmandats richtig ist, so darf sich die Bundesregierung ihrer Verantwortung für die Situation in Nordostsyrien nicht entziehen.« Adopt a Revolution erinnert daran, dass hunderte IS-Kämpfer aus Deutschland nach Syrien gereist waren, viele von ihnen sitzen dort noch in Gefangenenlagern. »Möglicherweise hätte die aktuelle Katastrophe in Hasakah verhindert werden können, wenn die westlichen Staaten ihre Staatsbürger zurückgenommen hätten, um sie selbst vor Gericht zu stellen«, so Ferdinand Dürr weiter.
Gemeinsam mit 130 zivilgesellschaftlichen Organisationen in Nordostsyrien fordert PÊL Civil Waves in einer Stellungnahme ein stärkeres Engagement der Weltgemeinschaft beim Einsatz gegen den »IS«. Insbesondere bei der Strafverfolgung und Verwahrung von IS-Kämpfern müsse sich auch Deutschland stärker einbringen:
- Alle in Nordostsyrien inhaftierten »IS«-Gefangenen mit Deutschland-Bezug müssen nach Deutschland gebracht und hierzulande vor Gericht gestellt werden.
- Die Selbstverwaltung Nordostsyriens muss dringend in die Lage versetzt werden, die zehntausenden inhaftierten mutmaßlichen »IS«-Kämpfer und »IS«-Unterstützer*innen sicher und menschenwürdig zu verwahren.
- Die Bundesregierung muss in Kooperation mit anderen europäischen Staaten die Selbstverwaltung Nordostsyriens dabei unterstützen, die Tausenden in Nordostsyrien inhaftierten mutmaßlichen IS-Kämpfer und Unterstützer*innen einem rechtsstaatlichen Verfahren zuzuführen – etwa einem internationalen Tribunal.
Zum Hintergrund:
Der »IS«-Angriff auf das al-Sina’a-Gefängnis in Hasakeh war bislang die größte Operation des »IS« seit dessen militärischer Niederlage im März 2019. Mehrere hundert minderjährige Häftlinge befanden sich tagelang in der Gewalt von »IS«-Kämpfern, die sich im Gefängnis verschanzt hatten. Berichten zufolge wurden etliche der inhaftierten Minderjährigen schwer verletzt oder getötet. Unter den Minderjährigen sind offenbar Kinder von »IS«-Angehörigen aus europäischen Staaten, aus den USA oder Kanada.
Das Stadtvierten Ghweran, in dem das Gefängnis al-Sina’a liegt, verwandelte sich im Zuge des Angriffs in ein Kriegsgebiet – rund 45.000 Bewohner*innen sahen sich zur Flucht gezwungen. Die Befreiung einer noch unbekannten Zahl an »IS«-Mitgliedern aus dem Gefängnis verbreitet unter den Einwohner*innen Hasakahs Angst und Schrecken. Für die gesamte Stadt und ihr Umland wurde eine Ausgangssperre verhängt.
Die von der Autonomen Selbstverwaltung Nordostsyriens (AANES) kontrollierte Region war im Vergleich zu allen anderen Landesteilen Syriens in den letzten Jahren vergleichsweise stabil. Trotzdem ist die Gegend konstant durch Angriffe der Türkei und fortbestehende »IS«-Strukturen bedroht. Dies begünstigt, dass das Assad-Regime und dessen russischen Verbündeten in Nordostsyrien an Einfluss gewinnen.