Nach wochenlangen Vorbereitungen haben die russischen Machthaber offenbar ihre Pläne für eine weitere Invasion in der Ukraine in die Tat umgesetzt. Nachdem bereits die Halbinsel Krim im Jahr 2014 von Russland besetzt und schließlich annektiert wurde, folgen jetzt ähnliche Schritte im Donbass und die zweite offene Intervention in der Ukraine.
Aktivist*innen aus Syrien haben die russische Intervention dort seit Ende September 2015 eng verfolgt. Russlands Eingriff hat in Syrien das Blatt gewendet und dem Assad-Regime den Weg frei gebombt, um wieder Kontrolle über vormals rebellische Gebiete zu erhalten. Angesichts der jüngsten Intervention in der Ukraine versuchen wir, ein paar Lehren aus dem russischen Einsatz in Syrien zu ziehen.
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1. Propaganda und Informationskrieg
Mit intensiver Falschinformation, Propaganda und False Flag Angriffen verhindert Russland, dass die Verantwortlichen identifiziert werden können – und es immer eine „alternative Wahrheit“ geben kann. Das kann sowohl Kriegsverbrechen wie den Einsatz von Chemiewaffen vertuschen, als auch die Glaubwürdigkeit ziviler Hilfsorganisationen untergraben, die u.a. die Folgen russischer Luftangriffe dokumentieren.
Nur zwei Beispiele: Unmittelbar nach dem Sarin-Angriff auf Khan Sheikoun brachten russische Regierungsvertreter*innen in kürzester Zeit gleich drei verschiedene Erklärungsmuster in Umlauf. Dass die nicht nur extrem unwahrscheinlich waren, sondern sich sogar gegenseitig ausschließen mussten: egal. Hauptsache es bleibt hängen, man wisse ja nicht so genau, was vor Ort passiert. So wird die Täterschaft des Assad-Regimes für den Giftgas-Angriff bis heute in Zweifel gezogen, obwohl die unabhängige internationale Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) den Fall untersucht hat – und das Assad-Regime verantwortlich macht.
Auch zivile Organisationen wie die White Helmets, die in verschiedenen Gebieten Syriens aktiv sind, sind dabei das Ziel russischer Propaganda. Die Ersthelfer*innen haben Dank intensiver Medienarbeit und Dokumentation der Folgen von (Luft-)Angriffen in zahlreichen Fällen belegt, welche Ziele das Assad-Regime und die russische Luftwaffe angegriffen haben. Mit einer großen Kampagne auf Social Media und in russischen Medien wurden die White Helmets als Terror-Unterstützer*innen gebrandmarkt und dem Vorwurf ausgesetzt hat, Angriffe nur zu inszenieren. Unter der monatelangen Verunglimpfung hat der Ruf der Hilfsorganisation gelitten – obwohl unabhängige Recherchen die Vorwürfe weitestgehend widerlegen konnten.
2. Volle Brutalität wegen Sonderstellung im UN Sicherheitsrat
Russland ist Vetomacht im UN-Sicherheitsrat und 2016 vom Internationalen Strafgerichtshof ausgetreten. Deshalb rechnen russische Politiker*innen und Militärs kaum damit, sich irgendwann vor internationalen Gerichten rechtfertigen zu müssen. Das gibt ihnen die Möglichkeit, sich im Kriegsfall über internationales Recht hinwegsetzen zu können – wovon das russische Militär in Syrien in zahllosen Fällen Gebrauch gemacht hat.
Ob Angriffe auf Schulen, Krankenhäuser, Märkte oder die Wasserversorgung, der Einsatz von Brandbomben und Streumunition – die Liste von Kriegsverbrechen, die dem russischen Militär vorgeworfen werden, ist lang. Die Recherche-Plattfrom airwars geht von bis zu 23.000 getöteten Zivilist*innen durch die russischen Luftangriffe in Syrien aus. Kein einziger Fall davon wurde jedoch offiziell zugegeben.
3. Einsatz von Söldnern und Waffen „tested in Syria“
Mit dem Einsatz von Söldnertruppen, allen voran der „Gruppe Wagner“, hat Russland schon in vielen Konflikten Erfahrungen gesammelt. Zur Reduktion des eigenen militärischen Risikos, aber auch um im Zweifelsfall bei Kriegsverbrechen eben nicht selbst dabei gewesen zu sein, setzt die russische Führung auch Söldnertruppen ein. Nach offiziellen Angaben sind in den über sieben Jahren der russischen Intervention (vor allem der Luftwaffe und der Marine) in Syrien lediglich etwas mehr als eigene 100 Soldaten ums Leben gekommen – während alleine in der Schlacht von Kasham über 200 russische „Freiwillige“ getötet wurden.
Zudem hat das russische Militär über 200 Waffensysteme alleine in den ersten beiden Jahren des Syrien-Einsatzes getestet. Die Nachfrage nach diesen Waffen ist daher stark gestiegen. Der staatliche russische Waffenproduzent Rosoboronexport stellt seine Waffensysteme stolz als „tested in Syria“ vor und – selbst auf Waffenmessen in der EU, an denen sie aufgrund mangelnder Sanktionen weiter teilnehmen konnten.
4. Was (keine) Sanktionen gegen Russland bewirken
Und jetzt der Skandal: Auf die zahlreichen, detailliert belegten Kriegsverbrechen der russischen Armee in Syrien ist KEINE EINZIGE Sanktion gefolgt. Zwar haben unter anderem EU, USA und Kanada nach der Annexion der Krim eine Reihe von Sanktionen gegen russische Staatsbürger verhängt und den Handel mit Russland beschränkt. Aber für die zahllosen Verbrechen in Syrien sind bis heute keine Strafmaßnahmen verhängt worden.
Ob die neu verhängten Sanktionen angesichts der jüngsten Eskalation in der Ukraine tatsächlich zu einem Einlenken der russischen Regierung führen, ist mindestens unklar. So hatte der russische Außenminister Lawrow bereits vor dem Einmarsch russischer Truppen in Luhansk und Donezk behauptet, egal was Russland tue, die Sanktionen kämen sowieso.
Was sich aus syrischer Perspektive aber sagen lässt: Das Ausbleiben von Strafmaßnahmen und der Weiterbau von Nordstream2 trotz eklatantester Kriegsverbrechen haben jedenfalls nicht zu einer Verhaltensänderung geführt.
TL;DR – Kurzversion
Wie es in der Ukraine nach der erneuten russischen Intervention weitergeht, bleibt unklar. Aus dem Fall Syrien lassen sich aber jedenfalls einige Lehren ziehen:
- Russland streut gezielt Propaganda und Falschinformationen in riesigem Umfang. Es bleibt wichtig, verbreitete Informationen genau zu prüfen, wie es journalistischer Standard ist.
- Militärs handeln umso brutaler, wenn sie sicher sein können, dass Kriegsverbrechen nicht vor Gericht landen.
- Durch den Einsatz von Söldnern und die Weiterentwicklung von Waffen geht von Russland eine größere militärische Bedrohung aus.
- Das Ausbleiben von Sanktionen führt nicht dazu, dass Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen aufgeklärt und beendet werden.
Aktivist*innen in Syrien streiten seit über zehn Jahren gleichermaßen gegen die Assad-Diktatur wie gegen radikalreligiösen Fundamentalismus. Adopt a Revolution unterstützt Projekte der syrischen Zivilgesellschaft, die sich für Gerechtigkeit, Frauenrechte und Demokratisierung einsetzen. Helfen Sie mit, unterstützen Sie diese Arbeit mir Ihrer Spende!