Kurz erklärt: Die Sache mit den Deeskalationszonen

Vier Deeskalationszonen sollen die Gewalt in Syrien reduzieren und dann den politischen Prozess wiederbeleben. Doch ob dies gelingen wird, ist zu bezweifeln. Eine Einordnung.

Unzählige lokale und landesweite Waffenstillstände wurden in den letzten Jahren in Syrien verkündet – ohne Ausnahme wurden sie alle gebrochen, oft nach nur wenigen Tagen oder Wochen. In der Regel krankten diese Regelungen stets an ähnlichen Konstruktionsfehlern. Drei der häufigsten:

– Die Kriegsparteien übertrugen sich selbst die Verantwortung für die Überwachung des Waffenstillstandes, ernannten also den Bock zum Gärtner
– Gerade im Falle geographisch weitreichender Waffenstillstände wurden diese zwischen den Interventionsmächten vereinbart – die lokalen Akteure wurden gar nicht in die Verhandlungen involviert und vor vollendete Tatsachen gestellt oder waren nur am Rande beteiligt
– Es gab keine Abkommen darüber, wie Brüche der Waffenruhen effektiv sanktioniert würden

Hinzu kommt, dass alle Kriegsparteien – allen voran aber das Assad-Regime, der Iran und Russland – diese Feuerpausen vor allem instrumentalisierten, um sich in Ruhe reorganisieren zu können: Fast allen großen militärischen Siegen des syrischen Regimes und seiner Alliierten ging eine Waffenruhe vorweg. Dies wiederum hat die Skepsis gegenüber derartigen Abkommen auf Seiten der Opposition weiter verstärkt.

Die vier Deeskalationszonen

Viele offene Fragen
Der jüngste Akt in diesem zynischen Spiel sind die sogenannten „Deeskalationszonen“. Vier solcher Gebiete (Teile von Idlib, Ost-Ghouta, Südsyrien und Nord-Homs) wurden Anfang Mai von Russland, dem Iran und der Türkei in Astana vereinbart. Erklärtes Ziel ist es, die Gewalt herunterzufahren – jede der drei ausländischen Mächte übernimmt die Verantwortung mäßigend auf die eigenen proxies einzuwirken. Kritiker sehen das Abkommen als weiteren Schritt hin zur Teilung Syriens, zementiert es doch ausländische Einflusszonen. Am Rande des G20-Gipfels in Hamburg wurden nun weitere Details für die südliche Zone (Teile der Provinzen Daraa und Quneitra) bilateral zwischen Moskau und Washington ausdiskutiert.

Derweil stockte die weitere Ausarbeitung der anderen Zonen in Astana Anfang Juli: Die Türkei braucht etwa „Bedenkzeit“ wie in Idlib zu verfahren ist, wo Ankara laut dem Abkommen vor der schier unlösbaren Aufgabe steht, terroristische (namentlich: Hai’at Tahrir al-Sham, HTS) von nicht-terroristischen Fraktionen zu trennen. Weil das Assad-Regime wiederum kurz vor der neuen Runde in Astana die Stadt Douma in Ost-Ghouta unter heftigen Beschuss nahm, stiegen mehrere relevante Rebellengruppen aus den Verhandlungen aus. Hinzu kommt, dass bei den „Deeskalationszonen“ dieselben alten Konstruktionsfehler vorliegen, die oben aufgeführt wurden.

Verstöße in allen Zonen
Entsprechend ist es wenig verwunderlich, dass in ausnahmslos allen Deeskalationszonen Bomben fielen und teils – wie in Daraa – sogar heftige Kämpfe ausbrachen, die mehr als drei Wochen lang währten. Tausende flohen aus der Stadt, weite Teile der von Rebellen kontrollierten Gebiete der gleichnamigen Provinzhauptstadt wurden dem Erdboden gleichgemacht. In der südlichen Zone kommen noch weitere Probleme hinzu: Weil Jordanien die Unterstützung für die eigentlich moderaten Rebellengruppen der Region zusammengekürzt hat, sehen sich diese im Kampf gegen Assad und ISIS zunehmend gezwungen, mit HTS zu kooperieren, damit machen sie weitere Gebiete im Süden zu – gemäß dem Abkommen – legitimen Angriffszielen, weil es den Kampf gegen ISIS und HTS erlaubt. Auch ist dieses Gebiet – wegen seiner Nähe zur israelischen Grenze – von großem Interesse für den Iran und die Hizbollah, die versuchen ihre Präsenz dort auszubauen. All das sorgt für eine potentiell explosive Situation. Unterm Strich ist dennoch die Zahl der zivilen Toten zurückgegangen, und das ist freilich gut.

Brandbombe auf Daraa, Mitte Juni. Foto: Nabaa Medienzentrum

Ein relevanter Unterschied zu bisherigen Versuchen
Auch existiert ein relevanter Unterschied gegenüber bisherigen Waffenruhen: Seit der Rückeroberung Aleppos ist Russland endgültig die dominante Interventionsmacht, hat militärisch Fakten geschaffen und den Verhandlungsprozess in Astana installiert, der mit dem von der UN unterhaltenen Verhandlungen in Genf konkurriert. Nun muss Moskau Erfolge auf diplomatischer Ebene erringen – denn niemand im Kreml will ein zweites Afghanistan in Syrien erleben. Deshalb kann man davon ausgehen, dass der Kreml gegenwärtig tatsächlich ein Interesse daran hat die Gewalt herunterzuschrauben und auf eine – freilich primär ihm selbst nutzende – Lösung hinzuarbeiten. Allerdings ist es fragwürdig, inwiefern der Iran, die Hizbollah und das Assad-Regime diese Führungsrolle tatsächlich anerkennen, laufen die russischen Interessen doch den eigenen zuwider. Der Iran will seine eigene Präsenz in Syrien durch schiitisch-islamistische Milizen zementieren und dass Assad die Kontrolle über ganz Syrien zurückgewinnt. Moskau hält letzteres gegenwärtig nicht für realistisch und sieht Assads mafiöse und Teherans zutiefst ideologische Milizen als Gefahr für eine wie auch immer geartete Ordnung in den von der Opposition gesäuberten Gebieten – auch deshalb wird die Präsenz russischer Militärpolizei in diesen Regionen ausgeweitet.

Washington wiederum hat seit dem Amtsantritt Donald Trumps klargemacht, dass man gegenüber dem iranischen Regime eine härtere Gangart anschlagen will und ihren Einfluss einzudämmen gedenkt. Weil man hier – wenngleich aus unterschiedlichen Motiven – vermeintlich die Ziele des Kremls teilt, wäre eine verstärkte Kooperation folgerichtig. Sowohl Außenminister Rex Tillerson als auch Trump sind sich hier ausnahmsweise einmal einig. US-Regierungsbeamte bestätigen anonym, dass man sich für dieses Ziel auch mit Assad als Machthaber arrangieren kann. Das aber ist absurd, würde es den Iran im Zweifelsfall doch eher ermächtigen. Andere Beobachter kritisieren wie der Autor Michael Weiss, dass es eher amerikanisches Wunschdenken sei, in Syrien mit Russland die iranische Expansion einzudämmen.

„Es gibt keine Lösung nur für Südsyrien“
Im besten Fall reduzieren die vier Zonen für eine Zeit die Gewalt, geben den Menschen eine Verschnaufpause und ermöglichen humanitäre Hilfe. Das wäre an sich ein kleiner Erfolg. Im worst case zementieren sie etwa in Ost-Ghouta die Belagerung und zerbrechen dann mittelfristig an den inneren Widersprüchen. Wie sich die Dinge entwickeln werden, ist unmöglich vorauszusehen. Auch muss zugleich endlich der politische Prozess vorangetrieben werden. Doch der ist noch immer tot, Erfolge in Genf scheinen illusorisch. Klar ist nur eins: Was die Syrerinnen und Syrer in politischer Hinsicht wollen, interessiert auf internationaler Ebene niemanden mehr. Doch eine Menschenrechtsaktivistin in Südsyrien warnt etwa: „Es kann keine Lösung lediglich für Südsyrien geben. Die Lösung für Syrien liegt darin, dass die internationale Gemeinschaft das Regime und dessen Verbrechen stoppen muss.“ Es wäre gut, wenn wir diesen Menschen zuhören würden.

Aus der südsyrischen Deeskalationszone wird mittlerweile wieder von Artilleriefeuer berichtet.

Jan-Niklas Kniewel