Plünderungen protürkischer Kämpfer 2018 in Afrin

Afrin: Wie lebt es sich unter türkischer Besatzung?

Die türkische Armee hat 2018 völkerrechtswidrig den kurdischen Kanton Afrin in Nordsyrien eingenommen. Jetzt droht eine weitere türkische Militäroffensive in der nordsyrischen Grenzregion. Der syrische Menschenrechtsaktivist Bassam al-Ahmad gibt im Interview einen Einblick, was es für die Bevölkerung konkret bedeutet, in einem türkisch besetzten Gebiet zu leben.

Plünderungen protürkischer Kämpfer 2018 in Afrin

Bassam al-Ahmed ist ein syrischer Menschenrechtsaktivist und Gründer der NGO „Syrians for Truth and Justice“, die Verstöße aller Kriegsakteure in Syrien dokumentiert. Zuvor hat Bassam u. a. zusammen mit der syrischen Rechtsanwältin und Journalistin Razan Zaitouneh im April 2011 das „Violations Documentation Center“ in Douma gegründet, das seit Beginn der Revolution Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Aufgrund ihrer Arbeit wurde Razan 2013 entführt und gilt seitdem als vermisst.


Was ist 2018 passiert, als die Türkei Afrin eingenommen hat?

Die Situation in Afrin hat sich rasant von schlecht zu katastrophal entwickelt. Die Selbstverwaltung pflegte bereits einen undemokratischen Regierungsstil mit dem Menschenrechtsverletzungen einhergingen. Mit der Invasion der Türkei bekam das Ganze aber eine ganz neue Dimension. Während des Angriffs gab es bereits Feldhinrichtungen und massenhaften Plünderungen. Die Soldaten haben keinen Laden, kein Haus unberührt gelassen, massenhaft Autos und sogar Traktoren wurden gestohlen. Ein paar Menschen haben diese Verbrechen vor Ort dokumentiert – einer von ihnen sitzt seitdem in der Türkei in Haft.

Als die militärischen Kämpfe vorbei waren, wurde es nicht besser – ganz im Gegenteil: Tausende Häuser, Ländereien und Besitztümer wurden enteignet, insbesondere die von vermeintlichen Mitarbeiter*innen der kurdischen Selbstverwaltung.

Es folgten Verhaftungen, Entführungen und Folter. Das betraf auch jene, die versuchten wieder in ihre Häuser zurückzukehren. Die meisten von ihnen konnten ihren Besitz nicht wiederbekommen.

Und dann begann die „Türkisierung“: Türkisch wurde in den Schulen zur Pflichtsprache, Kurdisch hingegen wurde aus den Lehrplänen verbannt. Öffentliche Plätze hießen auf einmal Recep Tayyip Erdoğan. Das kurdische Neujahrsfest Newroz wurde verboten, Mädchen unter Druck gesetzt Kopftuch zu tragen und Moscheen wurden in Gegenden aus dem Boden gestampft, wo die Menschen zwar religiös sind, aber eben nicht in Moscheen gehen. Das gehört nicht zu ihren Traditionen.

Diese kulturelle Einflussnahme ist aus meiner Sicht das Gefährlichste für die Region. Insbesondere weil so viele Menschen [r1] aus der Gegend geflohen sind. Gleichzeitig werden bewusst andere Menschen hier angesiedelt. Es entsteht eine neue Realität vor Ort, die sich festigt. Und es wäre nicht das erste Mal [r2] in der Geschichte Syriens.

Wie genau müssen wir uns diese Umsiedlung von Menschen vorstellen?

Ich mache es mal exemplarisch an dem Dorf „Jabal al-Ahlam“ (Berg der Träume). Unsere Hintergrundrecherchen haben gezeigt, dass dieses Dorf extra gebaut wurde, um dort arabische Menschen anzusiedeln. 70 Prozent der Häuser gingen an von der Türkei eingesetzte syrische Söldner und ihre Familien. Es ist aber noch etwas komplizierter.

Die Türkei will, dass Menschen aus anderen Regionen in diesen Dörfern in Afrin wohnen und wenn sie nicht wollen, werden sie gezwungen. Die Schwester eines unserer Mitarbeiter lebt schon sehr lange in einem Flüchtlingslager in Azaz. Die Menschen in dem Lager wurden „angefragt“, ob sie nicht nach Afrin ziehen wollten. Sie fühlten sich aber wohl in Azaz und haben schon viele Jahre dort gelebt, deshalb haben sie abgelehnt. Ein Nein wird aber nicht akzeptiert. Dem Lager wurde daraufhin das Wasser abgestellt und die humanitäre Hilfe blieb aus. Am Ende hatten sie keine Wahl und mussten nach Afrin gehen.

Die Zivilist*innen sind das schwächste Glied. Ihr Handeln ist total nachvollziehbar – sie haben kaum Chancen dem Druck standzuhalten. Es ist aber wichtig, dass sich die Zivilgesellschaft eine Strategie entwickelt von Gerechtigkeit und Zukunftsplanung. Neben der Vertreibung von Menschen, hat diese Politik der Besiedlung eine weitere Ebene dem Konflikt hinzugefügt. Denn sie erschwert die Rückkehr.

Gleichzeitig gefällt es mir nicht, dass die Selbstverwaltung versucht, daraus politisches Kapital zu schlagen. Natürlich kann man diese Situationen gar nicht miteinander vergleichen, aber die Selbstverwaltung instrumentalisiert nun und proklamiert „Als wir noch da waren, ging es euch besser!“ Das ist auch eine Botschaft in Richtung aller kurdischer Kräfte, wie Barzani und dem Kurdischen Nationalrat, die ja in gewisser Weise angetreten waren, die Region von der YPG zu befreien.

Wie wird Afrin heute verwaltet?

Die Türkei hat lokale Räte ernannt. Wie alle politischen Akteure in Syrien hat auch sie die Verwaltung alibimäßig mit ein paar Kurd*innen besetzt, die aber gar keine kurdischen Interessen vertreten!

Die Gegend wird von verschiedenen militärischen syrischen und türkischen Fraktionen kontrolliert – jede beansprucht ein kleines Gebiet für sich. Es vergeht kein Tag an dem es nicht zu Zusammenstößen zwischen den Militärfraktionen kommt. Die Bevölkerung kann sich nicht frei bewegen – es gibt viele Checkpoints und es kommt regelmäßig zu Verhaftungen. Freigelassen wird nur, wer Lösegeld zahlt. Zudem wird gezielt nach Menschen gesucht, die mit der Selbstverwaltung zusammengearbeitet haben. Das Leben in Afrin ist für die Leute gefährlich und kaum aushaltbar. Die Gesellschaft wird sukzessive militarisiert und damit Umstände geschaffen, die zu einem demographischen Wandel führen.

Wir haben das selbst dokumentiert: Menschen, die in Afrin bleiben wollten, wurden so lange schikaniert, bis sie nicht mehr konnten: Ihnen wurden ihre Papiere abgenommen, sie wurden verhaftet, geschlagen, erpresst, ihre Ernte beschlagnahmt und das Einkommen eingesackt. Außerdem wurden beispielsweise Schulen geschlossen.

Was bleibt ihnen anderes übrig als irgendwann zu gehen? Und dann kommen die Fraktionen, nisten sich in ihren Häusern ein und fühlen sich im Recht, weil das Haus ja leer und verlassen war. Das Assad-Regime wendet übrigens die gleiche Taktik an.

Welche Rolle spielen humanitäre Organisationen?

Viele der humanitären Akteure bezeichnen sich selbst als unparteiisch. Das ist aber ein schwieriges Thema. Sobald du Hilfe leistest für Menschen, die in den Häusern von Zwangsvertriebenen leben, dann unterstützt du auf eine Art auch diese Vorgänge. Das heißt natürlich nicht, dass die Leute vor Hunger sterben sollen, aber es muss von den Organisationen überprüft und berücksichtigt werden, welche Auswirkungen ihre Arbeit hat.

Zudem bestimmt die Türkei gezielt, in welchen Gegenden diese Organisationen unterstützen dürfen. Andere Regionen, in denen die demographischen Auswirkungen nicht so stark sind, werden von den NGOs deshalb oft ausgelassen. Das Assad-Regime und auch die HTS machen das so. Aber die Aufgabe humanitärer Organisationen ist nicht einfach nur zu helfen, sondern dabei auch nicht zu schaden und dem müssen sie gerecht werden!

Mindestens 137.000 Personen sind aus Afrin geflohen. Wo und wie leben sie heute?

Sie sind in vier verschiedene Gegenden geflohen: Ein Teil lebt in Camps in Shahba/Tall Rifaat. Darunter ca. 60.000, die zur Selbstverwaltung gehörten und beispielsweise in Schulen oder bei der Polizei gearbeitet haben. Sie haben keine Chance in der derzeitigen Lage zurückzukehren.

Dann sind viele nach Ashrafiya und Sheokh Maqsoud in Aleppo-Stadt geflohen, die ebenfalls unter der Kontrolle der Selbstverwaltung steht. Aber dort kommt es immer wieder zu Problemen mit dieser. Vor ein paar Wochen hat sie beispielsweise einfach den Import von Mehl gestoppt für eine längere Zeit.

Andere sind von Afrin nach Nordost-Syrien geflohen oder Kurdistan-Irak. Wenige leben jetzt in der Türkei oder haben es nach Europa geschafft.

Wie könnte man eine Rückkehr für die Vertrieben ermöglichen?

Es müsste eine syrische Kommission geben, die sich diesem Thema annimmt. Sie muss aber inklusiv sein, denn das Thema Rückkehr ist für alle Menschen in und aus Syrien wichtig. Es kann hierbei nicht nur um Afrin gehen, sondern es muss auch um Raqqa, Deir Azzor, Tell Abyad, Damaskus etc. gehen. Wir brauchen Rückkehrgesetze und die müssen knallhart sein: Wer den Boden von anderen genommen hat, muss ihn zurückgeben! Das gilt für alle. Wenn es eine gerechte Zukunft in Syrien geben soll, dann müssen die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden. Die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit dürfen nicht normalisiert werden. Wir wollen ein Syrien der Staatsbürgerschaft und des Rechtsstaates. Wir müssen ein Land aufbauen, in dem sich weder Kurd*innen, noch andere Menschen als Bürger*innen zweiter Klasse fühlen. Deshalb müssen wir bereits jetzt inklusive Projekte entwickeln, in denen sich die Opfer gegenseitig zuhören und ihren gegenseitigen Schmerz spüren.

Ich glaube aber, dass derzeit alle politischen Akteure die Zeit-Karte spielen, damit sie dann in den Gebieten machen können, was sie wollen. Es ist schwer für uns als Zivilgesellschaft gegen die Apparate von Staaten wie der Türkei oder des syrischen Regimes anzukommen.

Es ist gerade sehr schwer für uns, Forderungen zu stellen, weil die Türkei in einer sehr starken Position ist und keine Regierung – auch nicht die deutsche – den Willen hat, etwas zu tun.

Gibt es in Afrin zwischen den ortsansässigen und den vor dem Assad-Regime hierher geflohenen Menschen ein Miteinander und Kontakt?

Aus meiner Sicht nicht. Die Zivilgesellschaft in Afrin hat teilweise problematische Ansätze. Neulich sollte ein Projekt zur Problematik von Vertreibung innerhalb von Syrien durchgeführt werden. Die Teilnehmenden waren zwar alle in Afrin, aber es gab keine einzige Person, die aus Afrin war.

Auch bei der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen gibt es eine Voreingenommenheit. Die „Gewerkschaft der Freien Anwält*innen“ hat über einen unter Folter gestorbenen Araber berichtet. Fälle gefolterter Kurd*innen werden hingegen von ihnen nicht dokumentiert – als wäre es nicht wichtig, wenn kurdische Rechte verletzt werden. Wir als Organisation haben einen Bericht über Rezan Khalil  verfasst – einen kurdischen Jungen, der von Ahrar al-Sharqiya[r3] umgebracht wurde und niemand hat darüber geredet! Die lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen öffnen nur ihren Mund, wenn es um Verletzungen gegen die IDPs geht, nicht aber gegen die lokale Bevölkerung. Es gibt ein paar tolle Individuen, die kritisch sind, wie etwa Ahmad Al-Barro. Darauf muss aufgebaut werden, aber das reicht nicht. Die Zivilgesellschaft muss strategischer agieren und ja, es muss über das Zusammenleben nachgedacht werden. Aber dazu habe ich bisher zu wenig gesehen.

Mit deiner NGO dokumentierst du Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Wie funktioniert das an einem Ort wie Afrin?

Es ist in ganz Syrien schwer, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren oder kritische Medienarbeit zu leisten. Unsere Arbeit ist schwierig, weil wir immer Angst haben müssen aufzufallen und Opfer von Racheakten zu werden. Deshalb muss die Dokumentation im Geheimen stattfinden. Niemand kennt unsere Leute vor Ort, die Informationen und Berichte von Augenzeug*innen sammeln. Wir können auch fast nie unsere Quellen nennen, nicht mal, wenn es sich um die direkten Verwandten der Opfer handelt. Das wäre zu gefährlich, deshalb anonymisieren wir alles.

Viele der internationalen Menschenrechtsorganisationen dokumentieren nur, was sie von Augenzeug*innen haben. Aber die meisten haben gar keine Kontakte nach drinnen oder sie haben Angst mit Akteur*innen zu reden, die sie nicht kennen. Das stellt uns vor große Herausforderungen. Deswegen versuchen wir auch Treffen mit Augenzeug*innen außerhalb von Syrien zu organisieren.


[r1] Damals mussten nach UN-Angaben 137.000 Menschen aus der Stadt Afrin und der Umgebung fliehen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte spricht sogar von mehr als 350.000 Vertriebenen.

[r2] Der geplante Bevölkerungsaustausch ist für viele Kurd*innen nicht absurd, sondern historische Erfahrung:
Als 1974 der Euphrat-Staudamm gebaut wurde, wurden Tausende arabische Familien, die ihre Häuser aufgrund des Stausees Assadsee verloren hatten, dazu aufgefordert sich in „Modelldörfern“ niederzulassen. Diese wurden in kurdischen Gebieten gebaut, die Ländereien zuvor beschlagnahmt. Die einheimische kurdische Bevölkerung wurde vertrieben. 

[r3] Ahrar al-Sharqiya ist eine aktive bewaffnete syrische Rebellengruppe. Sie wurde 2016 von durch den IS, die YPG und der syrischen Regierung Vertriebenen vor allem aus Deir ez-Zor und anderen östlichen Provinzen wie bspw. Hassaka gegründet. Hintergrund waren die Kampfhandlungen, die in dieser Region zwischen 2011 und 2014 stattfanden. Viele Kämpfer der Ahrar al-Sharqiya sind ehemalige Mitglieder von al-Nusra und Ahrar al-Sham. Ihr wird vorgeworfen, viele ehemalige IS-Mitglieder in ihre Reihen aufgenommen zu haben.