Das Assad-Regime ist dafür bekannt, Hunger als Waffe einzusetzen – ein Kriegsverbrechen, das die Vereinten Nationen wiederholt dokumentiert haben. Immer wieder berief sich Damaskus auf eine eigennützige Rechtsauslegung und untersagte UN-Hilfsorganisationen, Syriens Grenzen in Gebiete zu überschreiten, die sich nicht unter der Kontrolle des Regimes befanden. Gebiete, in denen Millionen von Menschen in Not waren.
Im Jahr 2014 wurde der Druck auf die UN größer, endlich zu handeln. Sie zögerte aus Vorsicht und, weil ihr Präzedenzfälle sowie rechtliche Leitlinien fehlten, an denen sie sich orientieren konnte. Doch handlungsunfähig war sie schon damals nicht. Bereits zu diesem Zeitpunkt wies eine Gruppe prominenter Rechtsexpert*innen aus aller Welt in einem Artikel der britischen Tageszeitung “The Guardian” darauf hin, dass die Vereinten Nationen eigenmächtig Hilfsgüter über die türkische Grenze nach Idlib bringen können. Die öffentliche Debatte, die sich daraus entspann, wurde vom UN-Sicherheitsrat jäh unterbunden. Er verabschiedete die Resolution 2165, welche die UN dazu ermächtigte, Hilfsgüter über die Grenzen hinweg zu liefern.
Der Haken an der Sache: Die Resolution musste jährlich erneuert werden. Doch je länger der Krieg dauerte, desto kontroverser wurde sie im Sicherheitsrat gesehen und ihre Laufzeit zuerst auf sechs Monate reduziert. In dieser Zeit entfachten Juriste*innen und humanitäre Akteur*innen die juristische Debatte neu und vertraten die von inzwischen mehr Rechtswissenschaftler*innen unterstützte Auffassung, dass weder eine Resolution noch die Zustimmung Assads erforderlich seien. Im Sommer 2023 machte Russland dann seine Drohungen wahr und legte ein Veto in der Abstimmung ein. Die Grenzen schlossen sich für Hilfslieferungen, was Millionen von Syrer*innen in Lebensgefahr brachte.
Jetzt, da die Angelegenheit nicht mehr in den Händen des UN-Sicherheitsrats liegt, hat sich die Situation dramatisch verändert. Im Moment hat das syrische Regime der UN für eine begrenzte Zeit gestattet, die Grenzen zu nutzen. Diese Zustimmung ist kein Grund zur Freude. Denn: Hilfe für Menschen in Not zuzulassen ist eine Pflicht, kein Privileg. Das derzeitige Einverständnis des syrischen Regimes ist ein Beweis, dass es Hilfslieferungen jahrelang willkürlich verweigert hatte. Zudem ist die Abmachung zeitlich auf wenige Monate begrenzt. Und was kommt dann? Der Winter, der die humanitären Bedürfnisse vor Ort verschärft. Mit ihm wird die Situation weiter politisiert werden und wieder Fluchtbewegungen auslösen. Auch extremistische Kräfte können aus der Erzählung Kapital schlagen, dass die internationale Gemeinschaft das syrische Volk erneut im Stich gelassen hat.
Doch zur Erinnerung: Es braucht weder die Zustimmung des syrischen Regimes, noch eine Resolution, um Hilfen über die Grenzen zu bringen.
Was kann Deutschland tun? Es könnte sich hinter die rechtlich gültigen und stichhaltigen Argumente von Expert*innen – darunter ehemalige Richter des Internationalen Gerichtshofs (dem wichtigsten Rechtsorgan der UN) und des Internationalen Strafgerichtshofs – stellen, dass es kein Hindernis für die UN gibt, Hilfsgüter nach Syrien ohne Zustimmung zu bringen. Außerdem hat Deutschland als größter Geldgeber der UN bereits begonnen, direkt syrische und internationale Organisationen zu finanzieren. Dort arbeiten Menschen, die ihr Leben riskieren, um die Not vor Ort zu lindern. Aber es braucht noch mehr Einsatz. Die Situation in Syrien hat gezeigt: Hilfen werden nicht rechtlich, sondern politisch verhandelt. Staaten wie Deutschland, die deutlich machen, dass sie sich von humanitären Grundhaltungen leiten lassen, sind in der Lage, glaubwürdig für ihre Position zu argumentieren. Der Weg ist geebnet. Was jetzt noch fehlt, ist der Wille.
Zum Autor:
Ibrahim Olabi ist ein erfahrener Rechtsanwalt und spezialisiert auf Internationales Recht mit dem Schwerpunkt Naher Osten. Seit mehreren Jahren befasst er sich umfassend mit der Rechtsfrage im Zusammenhang mit Hilfslieferungen nach Syrien.