„Dass Syrien sicher sei, ist ein schlechter Witz, oder?“

In Münster wird geurteilt: Syrien sei sicher für Zivilist*innen – ohne die Realität vor Ort zu kennen. Wir lassen die Betroffenen selbst berichten und ihr Urteil ist vernichtend.

Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen sorgte kürzlich für Aufsehen mit einer Urteilsbegründung, die für viele kaum nachvollziehbar ist. Es kommt zu dem Schluss, dass Syrien für Zivilist*innen sicher sei und eine Rückführung somit grundsätzlich unbedenklich wäre. Unabhängig davon, welche Region untersucht wurde, fand das Gericht keine ernsthafte Bedrohung für das Leben und die Sicherheit der Menschen vor Ort. Was jedoch fehlt, sind die Stimmen aus Syrien, die das tatsächliche Leben in diesem Land widerspiegeln. Deshalb übernehmen wir hier die fehlende Recherche und zeigen, was wirklich passiert.

„Ich hätte eine Frage an das Gericht: Wenn die Lage in den syrischen Regimegebieten sicher ist, warum kehren dann nicht wenigstens die Vertriebenen innerhalb Syriens in ihre Häuser zurück? Warum ziehen sie es vor, halb obdachlos und hungernd in provisorischen Lagern auszuharren? Das sind die Fragen, die Sie sich stellen sollten.“ – Sara, Idlib 

„Damit besteht in der Provinz Idlib keine Situation, in der Zivilpersonen allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären (…)“ – Oberverwaltungsgericht NRW

„Wir erleben in Idlib eine gefährliche und instabile Lage, die durch den anhaltenden Konflikt zwischen Regierungstruppen und Oppositionsgruppen verschärft wird. Immer wieder kommt es zu Luft- und Artillerieangriffen, die Zivilist*innen töten und die ohnehin schon stark zerstörte Infrastruktur weiter schwächen. Die Region ist an der absoluten Belastungsgrenze durch die vielen Vertriebenen aus ganz Syrien, die hier Zuflucht vor dem Regime suchen. Die humanitäre Krise ist im vollen Gange. Viele Menschen sind obdachlos und können sich nicht selbst versorgen. Ihnen droht der Hungertod, oder sie brechen im Sommer aufgrund der Hitze, im Winter aufgrund der Kälte zusammen. All dies trägt dazu bei, dass eine sichere Rückkehr nach Idlib aktuell nicht möglich ist.“ – Huda

Ich bin fassungslos, nach welchen Kriterien die Sicherheitslage hier bewertet wird. Die Streitkräfte des syrischen Regimes greifen regelmäßig Gebiete im Gouvernement Idlib an, die sich außerhalb ihrer Kontrolle befinden. Dabei zielen sie nicht auf bewaffnete Gruppen, wie es im Urteil heißt, sondern direkt auf Zivilist*innen. Das bedeutet doch, dass meine Anwesenheit in der Provinz Idlib eine Bedrohung für mein Leben darstellt, oder?! Wir sind auch nicht sicher vor Entführungen, Diebstählen, Tötungen an Kontrollpunkten und Verhaftungen in den von der HTS und dem syrischen Regime kontrollierten Gebieten.“ – Sara 

„Damit besteht bezogen auf die gesamte Provinz Aleppo keine Situation, in der Zivilpersonen allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären.“ – Oberverwaltungsgericht NRW

Dass Syrien sicher sei, ist ein schlechter Witz, oder? Wenn ja, kann ich nicht lachen. Die Vorstellung allein ist absurd. Es wäre eine Katastrophe, wenn gerichtliche Institutionen in Deutschland oder anderswo das glauben. Für uns, die hier leben, ist klar: All das ist pure Propaganda des Regimes, das versucht, eine falsche Realität zu verkaufen. Und damit anscheinend Erfolg hat. In Wirklichkeit ist es so: Niemand kann sich sicher sein, ob er heute in Lebensgefahr schwebt oder nicht.“ – Anas

Die Kontrolle durch bewaffnete Milizen macht Aleppo zu einem der gefährlichsten Orte in Syrien. Die Sicherheitslage in Nordaleppo, wie in Al Bab, Azaz und Afrin, ist katastrophal. Explosionen auf Märkten und in belebten Straßen sowie Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppen fordern regelmäßig zivile Opfer. Die Verbreitung von Waffen und Drogen ist eine große Gefahr für die Zivilbevölkerung. In Regionen, die von Regimekräften und iranischen Milizen kontrolliert werden, leben die Menschen in ständiger Angst vor Verhaftungen, Entführungen und Erpressungen. Anhänger des Regimes gehen willkürlich vor und entführen Menschen zum Beispiel, um Bestechungsgelder zu verlangen.“ – Noura

„Damit besteht in der Provinz Suweida keine Situation, in der Zivilpersonen allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären (…)“ – Oberverwaltungsgericht NRW

Jede Nacht schrecken die Kinder in Suweida und Deraa aus ihrem Schlaf auf, sei es wegen Raketeneinschlägen, dem Rasseln von Maschinengewehren oder Bombenattentaten. Die nächtlichen Zusammenstöße zwischen lokalen Gruppen und der Hisbollah sowie anderer, dem Iran verbundener Milizen sind keine Ausnahme mehr. Wir sind hier komplett schutzlos. Zivilist*innen werden überall terrorisiert, durch Waffengewalt, Entführungen und Erpressungen. Ein täglicher Albtraum!“ – Firas 

„Der eigentliche Konflikt in Suweida liegt nicht zwischen Milizen, sondern zwischen der Bevölkerung und dem syrischen Regime. Menschen, die für politischen Wandel auf die Straße gehen, werden brutal von den Sicherheitskräften verfolgt und eingeschüchtert. Demonstranten leben in ständiger Angst vor Verhaftungen und Repressalien, während die Justiz völlig handlungsunfähig ist und nur mit Zustimmung der Sicherheitsdienste agiert. Ihr Urteil, dass Menschen hier nicht in Lebensgefahr schweben, könnte dazu führen, dass viele Menschen sterben, wenn sie nach Syrien zurückkehren müssen.“ – Raya 

„Damit besteht in der Provinz Hasaka keine Situation, in der Zivilpersonen allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären.“ – Oberverwaltungsgericht NRW

„In Hasaka ist die Sicherheitslage für die Bewohner äußerst bedrohlich. Wir haben ständig Angst vor türkischen Angriffen, die in den letzten Jahren Zivilist*innen immer wieder das Leben gekostet haben. Außerdem besteht die Gefahr, in Kämpfe zwischen SDF und Regimetruppen zu geraten. Die Bedrohung durch IS-Schläferzellen und das Notstandsgesetz führen dazu, dass jede Person jederzeit verhaftet werden kann – oft ohne Angabe von rechtlich nachvollziehbaren Gründen.“ – Daas 

„Damit besteht in der Provinz Homs keine Situation, in der Zivilpersonen allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären (…)“ – Oberverwaltungsgericht NRW

„In Homs leben viele Menschen in ständiger Angst vor Verhaftung und Folter, besonders diejenigen, die in Gebieten geblieben sind, die früher von Oppositionskräften kontrolliert wurden. Junge Menschen, die mit der syrischen Revolution in Verbindung gebracht werden, müssen sich verstecken und sind nicht in der Lage, ihre Familien zu versorgen. Regelmäßige Verhaftungen und Entführungen sind an der Tagesordnung. Regimetreue Milizen verüben aus Rache brutale Morde an Unschuldigen.“ – anonym 

„Damit besteht in der Provinz Tartous keine Situation, in der Zivilpersonen allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären.“ – Oberverwaltungsgericht NRW

In Tartous herrscht eine Atmosphäre der Angst, selbst unter den Anhängern des Regimes. Die wirtschaftliche Notlage wird von einem Klima der Unterdrückung begleitet, das jede Form von Kritik im Keim erstickt, aus Angst vor Verhaftung. Die unkontrollierte Verbreitung von Waffen unter den Milizen hat zu einer Eskalation der Gewalt geführt, wie das erschreckende Beispiel eines Kindes zeigt, das mit einer Handgranate in die Schule kam und drohte, sie zu sprengen. Solche Vorfälle sind symptomatisch für die gefährliche Instabilität in der Region.“ – anonym

Ich bin absolut gegen eine Rückführung der Flüchtlinge in Regimegebiete – das käme einem Verbrechen gegen diese Menschen gleich. Ihnen droht die willkürliche Gewalt des Assad-Regimes. Rückkehrende und Menschen, die in das Land einreisen, werden oft ohne Grund verhaftet und angeklagt. Internationale Organisationen scheinen keine Kontrolle über diese Missstände zu haben, was das Risiko für Inhaftierungen und Folter erhöht. Unter diesen Bedingungen ist eine Rückkehr der Flüchtlinge, ob freiwillig oder unfreiwillig, völlig unverantwortlich und gefährlich.“ – Manal, Idlib

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