Die Beurteilung der Feuerpause in Syrien geht weit auseinander. AktivistInnen berichten uns auf der einen Seite, dass insbesondere die Gewalt geringer Intensität in vielen Landesteilen deutlich abgenommen hat. In diesen Regionen haben die Menschen eine Ruhepause, sie schöpfen Hoffnung und – auch das ein Effekt der Feuerpause – sie demonstrieren wieder. Auf der anderen Seite gibt es neben vereinzelten kleinen Brüchen der Waffenruhe, die häufig als Provokation an die gegnerische Seite zu werten sind, auch massive Brüche: Selbst Gegenden, in denen keine dschihadistischen Kämpfer von ISIS oder der al-Nusra-Front aktiv sind, werden weiterhin massiv mit Fassbomben und der russischen Luftwaffe angegriffen, wie unsere Projektpartner aus Talbiseh regelmäßig dokumentieren.
Eine Woche haben wir die Ereignisse eng verfolgt und von beidem berichten können: Genauso von der Hoffnung darauf, dass die bevorstehenden Verhandlungen in Genf Syrien näher an eine Friedenslösung bringen werden, wie von der Enttäuschung, dass insbesondere russische und syrische Luftwaffe weiterhin ohne Folgen insbesondere in den Provinzen Iblib, Aleppo und zwischen Hama und Homs angreifen können. Eine Bewertung durch die internationale Taskforce unter Vorsitz von Russland und USA steht noch aus. Aber offenbar halten die Bündnisse der bewaffneten Opposition die Chancen der Waffenruhe noch für größer, als den Schaden, so dass sie ihn nicht aufgekündigt haben.
Noch ist niemand bereits, die Feuerpause aufzukündigen
Beispielhaft dafür die Lage in Moadamieh, bei Damaskus: „Bei uns wird massiv kritisiert, dass das Regime und Russland in Aleppo und Idlib weiter bombardieren“, berichtet eine Aktivistin. „Es gab auch Proteste in Solidarität mit den betroffenen Orten. Aber die beiden FSA-Einheiten vor Ort sind viel zu sehr der lokalen Bevölkerung verpflichtet, als dass sie deswegen die Waffenruhe aufkündigen würden.“ Die Menschen könnten endlich wieder die Keller verlassen in denen sie hausen und genießen, in der Sonne spazieren zu gehen. Die relative Ruhe vor Ort gehe gerade noch vor, obwohl die Belagerung der Stadt mit rund 45.000 BewohnerInnen durch die spärlichen Hilfslieferungen der letzten Tage lediglich für kurze Zeit gelindert, aber keineswegs aufgehoben sei.
Ganz anders die Einschätzung aus Talbiseh in der Provinz Homs, seit letztem Oktober einer der Schwerpunkte russischer Luftangriffe und Ziel syrischer Fassbomben-Abwürfe. Schon wenige Stunden nach Beginn der Feuerpause berichteten uns AktivistInnen von ersten Angriffen seitens des Regimes. Für die Menschen dort hat sich nichts verändert, sagen sie, und die Angriffe gehen in einer ähnlichen Intensität weiter, auch wenn es in der Region weder Kämpfer von ISIS noch von der al-Nusra-Front gibt. Doch am heutigen Freitag schließen sich viele BewohnerInnen dennoch den zahlreichen landesweiten Demonstrationen an, die einen Sturz des Assad-Regimes fordern.
Demonstrationen in Syrien wie 2011: Waffenruhe knüpft an die Revolution an
Das ist ein beeindruckendes Phänomen der Feuerpause: Wo die Menschen die Freiheit haben, diese Meinung zu äußern, knüpfen sie sofort wieder mit Demonstrationen an die Forderungen der Revolution von vor knapp fünf Jahren an: „Das Volk will den Sturz des Regimes“ wurde bereits in den Vortagen auf Demonstrationen gefordert, am heutigen Freitag, dem traditionellen Tag der Demonstrationen in Syrien, erklingt der Ruf wieder so häufig, in so vielen Orten, wie lange nicht.
Wir werden weiter beobachten, wie es mit der Waffenruhe weitergeht. Anstelle auf unseren Liveblog verweisen wir jetzt erst einmal auf die Dokumentation von Angriffen unseres Partners Syria Campaign..
AktivistInnen schöpfen Hoffnung
Auch die AktivistInnen der jungen syrischen Zivilgesellschaft schöpfen neue Kraft. In den letzten Tagen haben uns neue Vorschläge für lokale Projekte erreiche, mit denen AktivistInnen weiterhin für das Recht streiten wollen, in Syrien ein Leben in Freiheit und Würde führen zu können. Das Anhalten der Feuerpause und ein echter Friedensprozess werden dafür die besten Voraussetzungen sein. Aber damit die Projekte realisiert werden können, brauchen die zivilen AktivistInnen unsere Unterstützung.
Ob eine Bibliothek in der belagerten Vorstadt von Damaskus, unabhängiges Medienbüro zur Dokumentation von Menschenrechtsverbrechen oder ziviles Zentrum für den interreligiösen Dialog: Helfen Sie mit und unterstützen Sie lokale Projekte der syrischen Zivilgesellschaft mit Ihrer Spende!