„Weltrechtsprinzip“ – es ist ein hohes Ideal, in dessen Zeichen das Verfahren gegen den syrischen „Folterarzt“ Alaa M. steht, welches am 19. Januar 2022 am Oberlandesgericht (OLG) in Frankfurt Main begann. Weltrechtsprinzip, das kommt dem Anspruch gleich, für die Rechte derer einzustehen, denen Unrecht widerfährt, einfach, weil es moralisch geboten ist – egal wo und wer durch dieses Unrecht zum Opfer wurde.
Gemeinsam mit dem Verfahren gegen Ansar R., der kürzlich in Koblenz zu lebenslanger Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde, kommt dem Prozess somit große symbolische Bedeutung zu. Besonders für Menschen, die während der Revolution in Syrien und dem anschließenden Bürgerkrieg Opfer von Gewalt durch das Regime wurden, setzen sie ein wichtiges Zeichen: Sie signalisieren, dass die Welt den Verbrechen in Syrien nicht teilnahmslos gegenübersteht, und dass das Verlassen des Landes Täter*innen nicht vor juristischer Verfolgung schützt. Das ist zu begrüßen und ein wichtiger Schritt.
Täter handeln nicht in einem Vakuum
Doch das inhärente Versprechen von Gerechtigkeit hat auch einen hohlen Beiklang. Denn während vor Gericht und in den Medien, die individuelle Schuld von Verantwortlichen und Ausführenden diskutiert wird, rückt Syrien als politische Problematik zunehmend in den Hintergrund. Das kommt in Zeiten beschleunigter News-Cycles, schrumpfender Aufmerksamkeitsspannen und „vergessener Kriege“ nicht unerwartet. Und doch bleibt es schmerzlich, dass das Wiedererstarken des Regimes durch die internationale Politik stillschweigend geduldet, und teils sogar begrüßt wird, während seine Handlanger verurteilt werden. Denn Täterschaft entsteht nicht in einem Vakuum. Das Assad-Regime hat gezielt und systematisch die Bedingungen geschaffen und normalisiert, unter denen selbst Ärzt*innen und medizinisches Personal an Folter und Mord beteiligt sind.
So berichten Zeug*innen, dass Alaa M. – als ziviler Assistenzarzt im Auftrag des Geheimdienstes – Patient*innen misshandelt, gefoltert und teils ermordet haben soll. Ihren Aussagen zufolge vermischte sich dabei die gnadenlose Logik systematischer Repression mit sadistischer Grundlosigkeit, gezielte Folter zum Informationserwerb mit scheinbar willkürlicher Grausamkeit. Unter Anweisung durch Militär und Geheimdienst und ohne zivile Kontrolle entstanden rechtlose Räume wie das berüchtigte Militärkrankenhaus Nr. 608 in Homs, in dem Alaa M. diese Taten angeblich verübte. Dort verschwimmen unausweichlich die Grenzen zwischen Behandelnden und Folterern, zwischen Gefangenen und Patient*innen, zwischen Misshandlung und Verhör, Unterlassung und Mord. Und so stellt selbst der erschreckende Sadismus, den einige Zeug*innen Alaa M. vorwerfen, wohl keine Ausnahme dar: Unter den syrischen Ärzt*innen, schreibt die Amsterdamer Genozidforscherin Annsar Shahhoud in einer qualitativen Studie zu Täter*innen aus dem medizinischen Bereich, „waren enthusiastische Folterer und Mörder, die ihre medizinischen Fähigkeiten bewusst [einsetzten, um] den Willen und das Leben ihrer Opfer zu brechen“.
Ein System des Unrechts
Doch ein solcher „Enthusiasmus“ benötigt den Nährboden eines Unrechtsregimes, um sich zu entfalten. Es ist charakteristisch für repressive Systeme, dass sie sowohl billigende Mitläufer*innen als auch überzeugte Mittäter*innen hervorbringen. So erklärt auch der Aktivist Samer, der die Verhandlung am OLG in Frankfurt beobachtet, dass Verbrechen wie jene, die Alaa M. vorgeworfen werden, nicht spontan entstehen, sondern systemischer Natur sind: „Das Assad-Regime“, sagt Samer, „hat die Krankenhäuser zu Schlachthäusern umgewandelt.“ In diesem Zusammenhang nennt auch Der Spiegel die Militärkrankenhäuser „[logistische] Zentren der Registrierung und Entsorgung von Leichen, bevor sie in Massengräbern verscharrt wurden“.
Der Aktivist Samer al-Hakim berichtet seine Eindrücke vom Prozessauftakt gegen Alaa M.
In Syrien besteht schon seit der französischen Kolonialherrschaft eine enge Verknüpfung des Gesundheitswesens mit Staat und Regime. Um diese Nähe zu unterstreichen, bezeichnete die Assad-Propaganda die syrischen Mediziner*innen einmal als dessen „weiße Armee“. Sowohl der Zugang zu medizinischer Versorgung als auch die Aussichten einer Anstellung im medizinischen Bereich sind politisiert und etwa an die Loyalität zur Ba’ath-Partei gebunden. Das Gesundheitssystem handelte und behandelte somit auch vor der Revolution nicht egalitär. Aber der zunehmende Kreislauf der Gewalt seit 2011 machte die Ungleichbehandlung zunehmend tödlich: Demonstrant*innen, die bei Angriffen auf friedliche Proteste verletzt wurden, ließen sich ab 2011 besser nicht in offiziellen Krankenhäusern behandeln, um nicht dort ihre Festnahme zu riskieren – oder einfach unbehandelt zu bleiben, was teilweise dem Mord durch Unterlassung gleichkommt.
Spaltung und Entmenschlichung
Aktive Teilnahme an Folter und die gezielte Tötung von Oppositionellen, wie sie Alaa M. vorgeworfen werden, stellen also nur die grausame Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs dar. Dahinter steht die Politik der tiefgreifenden Spaltung der syrischen Gesellschaft, auf die sich das Assad-Regime bis heute stützt. Um seine traditionelle Anhängerschaft hinter sich zu vereinen, verleumdeten Präsident, Regierung und Staatsmedien von Beginn an die Opposition, die sich 2011 zunächst friedlich und über ethnische und religiöse Grenzen hinweg formierte, als „Terroristen“ und totalitäre sunnitische Extremist*innen. Die Politik der Repression verlieh der individuellen Täterschaft, zunächst vor allem durch Militär und Sicherheitskräfte, somit zunehmend den Deckmantel des Offiziellen und eine scheinbare moralische Rechtfertigung. Diese Tendenz mündete im sogenannten „Anti-Terrorismus-Gesetz“, das die Regierung im Juni 2012 erließ. Es gab der Kriminalisierung oppositioneller Menschen Gesetzesform und legitimierte die Dehumanisierung von Regimegegner*innen. Dies erleichterte es Ärzt*innen, Patient*innen zu misshandeln, indem sie diese zu Staatsfeinden erklärte und zunehmend als „Menschen zweiter Klasse“ etablierte. Folter und Misshandlung können so als politische Notwendigkeit umgedeutet werden, und die eigene Täterschaft erscheint als loyaler Dienst für Recht und Ordnung.
Politische Antworten bleiben aus
Dies ist der gesellschaftliche, politische und medizinische Kontext, in dem individuelle Täterschaft, wie die, die Alaa M. nun vorgeworfen wird, entsteht. Denn ohne die aus dem Handeln des Einzelnen resultierende Schuld zu mindern, gilt es anzuerkennen, dass die Logik der staatlichen Repression selbst, mit der das Assad-Regime der demokratischen Revolution begegnet, eine solche Täter*innenschaft systematisch fördert und produziert. Eine Folge dieser Einsicht muss es daher sein, dem moralischen Anspruch des Weltrechtsprinzips auch politische Form zu geben. Während die Prozesse in Koblenz und Frankfurt wertvoll signalisieren, dass Mittäter*innen nicht mit Straffreiheit rechnen können, wenn sie Syrien verlassen, positionieren sich die politisch Verantwortlichen um Präsident Assad derzeit für eine Normalisierung ihrer Herrschaft, all ihrer erwiesenen Verbrechen an den Syrer*innen zum Trotz. Die Europäische Außenpolitik übt sich währenddessen bisher in vornehmer Zurückhaltung und stillschweigender Billigung dieser Konsolidierung. So werden Symptome öffentlichkeitswirksam behandelt – die Grundproblematik aber bleibt unangetastet. Das Streben nach ‚Weltrecht‘ findet sich – zumindest von offizieller deutscher Seite – zunächst nur im Gerichtssaal.
Damit Verfahren wir das gegen Alaa M. geführt werden können, müssen Belege gesichert werden. Dieser Aufgabe haben sich die Aktivist*innen Human Rights Guardians verschrieben. In Syrien sammeln sie Beweise dafür, wer für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich ist. Stärken Sie diese Arbeit mit Ihrer Spende!