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Im Dezember feierten Millionen Syrer*innen weltweit den Sturz des Assad-Regimes. Aufbruchstimmung und Euphorie überzogen das kleine Land, das jahrelang unter dem repressivsten Regime der Welt gelitten hatte. Überall lagen sich Menschen in den Armen, das ganze Land jubelte, als Assad-Statuen kippten – im kurdisch geprägten Hassaka genauso wie in der alawitischen Küstenstadt Tartous. Nun, zwei Monate später, weicht die Aufbruchstimmung zunehmender Skepsis. Die neue Übergangsregierung unter Ahmad al-Scharaa steht vor enormen Herausforderungen, aber auch der historischen Chance auf einen echten Neuanfang.
Wo Licht ist, gibt es auch Schatten
Seit dem Umsturz bemüht sich der neue Machthaber darum, Stabilität herzustellen und das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Scharaa präsentiert sich als pragmatischer Vermittler, der alle gesellschaftlichen Gruppen in den politischen Neuanfang des Landes einbinden möchte. Seine Rhetorik zielt darauf ab, Einheit zu betonen und Zuversicht zu vermitteln. Wer mit Ahmad al-Scharaa spricht, beschreibt ihn als geschickten Vermittler mit einer „Null-Problemo“-Strategie: Er schafft es, dass sein Gegenüber das Gespräch mit dem Gefühl verlässt, gemeinsame Interessen zu teilen. Diese Fähigkeit kann helfen, Spannungen zu entschärfen und Vertrauen aufzubauen.
In seiner ersten Ansprache an die Nation am 30. Januar wandte sich Scharaa an „alle Syrer*innen“ und sprach auch jene an, die weiterhin in Flüchtlingslagern ausharren müssen. Auffällig war zudem seine bewusste Verwendung inklusiver Sprache: Er genderte seine Rede nahezu durchgehend – ein für den arabischen Sprachraum eher ungewöhnlicher Schritt.
Die in seiner Rede angeschlagenen versöhnlichen Worte stehen im starken Kontrast zur Art seines Amtsantritts. Nur einen Tag zuvor war Scharaa unter Ausschluss der Öffentlichkeit und in Begleitung hochrangiger Militärs offiziell zum Präsidenten der Übergangsregierung ernannt worden – ein Vorgang, der bei vielen eher den Eindruck einer Machtdemonstration denn als geordneten politischen Übergang hinterließ.
Nordostsyrien: Keine Lösung in Sicht
Die nationale Einigkeit ist Scharaa noch nicht gelungen. Ein zentraler Schritt dazu wäre die „Konferenz des nationalen Dialogs“. Sie soll den Rahmen für eine neue Verfassung, freie Wahlen und eine Regierung mit breiter gesellschaftlicher Legitimation schaffen. Doch die Umsetzung stockt. Die Konferenz wurde verschoben, die Kriterien für die Teilnahme sind unklar. Für die Stabilität des neuen Staates ist die Einbindung aller gesellschaftlichen, religiösen und ethnischen Gruppen entscheidend. Dennoch gibt es auch positive Signale: Immer mehr Milizen zeigen sich bereit ihre Waffen abzugeben und sich einem integrativen politischen Prozess zu unterwerfen.
Die Einbindung der kurdischen Bevölkerung, die mehrheitlich im Nordosten Syriens lebt, stellt eine der größten Herausforderungen für die neue Übergangsregierung dar. Während in Damaskus über die Zukunft des Landes verhandelt wird, eskaliert die Lage in der Region weiter. Die Türkei setzt ihren 2022 begonnenen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg unbeirrt fort und hat ihre Luftangriffe zuletzt sogar intensiviert. Gleichzeitig erschüttern immer wieder Anschläge das Gebiet. Allein im vergangenen Monat gab es sieben größere Attacken mit zahlreichen Todesopfern – die Drahtzieher sind unbekannt.
Ein möglicher Ausweg könnt einem Abkommen zwischen der Übergangsregierung und der Autonomen Verwaltung Nordostsyriens liegen. Seit Wochen verhandelt Ahmad al-Scharaa mit Mazlum Abdi, dem Anführer der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), dem militärischen Arm der Autonomen Verwaltung Nordsyriens. Doch eine Einigung ist nicht in Sicht. Über die genauen Inhalte der Verhandlungen dringt wenig nach außen. Bekannt ist aber, dass die SDF derzeit nicht bereit ist, sich vollständig in eine nationale Armee einzugliedern. Stattdessen bestehen sie auf der Bildung einer eigenen Brigade innerhalb der syrischen Nationalarmee. Zudem fordern die kurdischen Vertreter*innen die Einführung eines dezentralen Systems, anstatt sich vollständig einer zentralistischen Regierung in Damaskus zu unterwerfen. Diese Forderung ist nicht allein das Anliegen der Kurd*innen; auch aus anderen Regionen Syriens gibt es ähnliche Bestrebungen.
Die Bevölkerung im Nordosten hat viele Fragezeichen und Ängste, wie die Einigung zwischen der SDF und den aktuellen Machthabern in Damaskus am Ende ausfallen wird. Solange der Nordosten Syriens nicht fest in den neuen Staat integriert wird, bleibt die Region ein schwelender Krisenherd. Das Problem: Hier werden Entscheidungen getroffen, die nicht im landesweiten Konsens stehen und den nationalen Dialog umgehen. Eine stabile Grundlage sieht anders aus.
Sanktionen bremsen Investitionen aus
Doch nicht nur der politische Prozess steht auf wackeligen Beinen – auch wirtschaftlich steckt das Land in einer tiefen Krise: Ganze Dörfer und Städte liegen in Trümmern, die Infrastruktur ist zerstört, grundlegende Dienste wie Wasser-, Strom- oder medizinische Versorgung funktionieren nicht. Der Wiederaufbau wird auf mehrere hundert Milliarden Dollar geschätzt. Die einstige Haupteinnahmequelle des Assad-Regimes, der illegale Captagon-Drogenhandel, wurde gestoppt. Die noch bestehenden Sanktionen erschweren den schnellen Wiederaufbau, weil diese Syrien effektiv vom internationalen Handel und Investitionen abschneiden. Ein erster wichtiger Schritt sind die Ausnahmeregelungen für Syriensanktionen der USA. Diese gehen aber nicht weit genug, denn die Sanktionen schränken beispielsweise weiterhin den Import wichtiger Ersatzteile ein, die für die Wiederherstellung der syrischen Elektrizitätsinfrastruktur erforderlich sind. Auch sind neue Investitionen weiterhin nicht erlaubt, die Ausnahmeregelungen werden den privaten Sektor daher nicht zu Investitionen anregen.
Auch die Europäische Union hat gerade erst Erleichterungen bei den Sanktionen beschlossen, doch wann diese greifen werden, bleibt unklar. Die Landwirtschaft und die Ölförderung im Nordosten könnten langfristig eine stabile Basis bilden, doch dafür braucht es massive Investitionen. Besonders dramatisch ist die humanitäre Lage: Knapp 17 Millionen Menschen sind weiterhin auf internationale Hilfe angewiesen. Die Übergangsregierung ist sehr bemüht eine Versorgung für alle Menschen herzustellen, Infrastruktur und grundlegende Dienstleistungen wiederherzustellen und die Häuser wieder aufzubauen. Dafür braucht es jedoch dringend auch finanzielle Unterstützung von außen, denn die eigenen Ressourcen sind begrenzt.
Ein Land im Aufbruch – mit ungewisser Richtung
Die Lage in Syrien bleibt fragil und die wachsende Intransparenz der neuen Führung schürt erste Zweifel. Das derzeitige Gefühl des Zusammenhalts könnte schnell in neue Konflikte umschlagen, denn die gesellschaftlichen und politischen Bruchlinien sind tief. Scharaa agiert deshalb mit äußerster Vorsicht und scheint vor allem darauf bedacht, es allen recht zu machen – eine Strategie, die auf Dauer kaum tragfähig sein dürfte.
Es gibt aber Lichtblicke: Die Widerstandskraft der syrischen Gesellschaft ist ungebrochen, viele Menschen wollen aktiv am Wiederaufbau und Neubeginn mitwirken. Mit der richtigen Unterstützung und einer Regierung, die Sicherheit und Freiheit garantiert, könnte das Land langfristig wieder auf die Beine kommen. Ob Scharaa dieser Rolle gerecht wird, bleibt jedoch offen. Bislang zeichnet sich sein Regierungsstil vor allem durch schöne Worte aus – entscheiden wird sein, ob bald auch konkrete Taten folgen.