Giftgas-Jahrestag in Syrien: „Die Verbrecher wurden nie bestraft“

Vor sieben Jahren starben in Syrien rund 1.300 Menschen am Nervengift Sarin. Überlebende des Angriffs, Angehörige von Opfern und Zeugen leben auch in Deutschland. Zum Jahrestag erinnern sie an das grausige Kriegsverbrechen und klagen an.

Berlin, 19. August 2020 – Diesen Freitag jährt sich der bislang schwerste Giftgasangriff des Syrien-Kriegs zum siebten Mal. Mit Sarin bestückte Boden-Boden-Raketen trafen am 21. August 2013 mehrere Orte der damals oppositionell kontrollierten damaszener Vorstadtregion Ghouta, darunter die Städte Erbin, Zamalka, Douma, Daraya und Muadamiyah. Rund 1.300 Menschen starben, viele weitere wurden verletzt. Die überwiegende Mehrheit der Opfer waren Zivilist*innen.

Unter dem Motto #DoNotSuffocateTruth erinnern syrische Aktivist*innen auch hierzulande öffentlich an das Giftgas-Massaker und klagen die Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft an: »Die Verbrecher wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen, vielmehr arbeiten Russland und das Assad-Regime daran, die Fakten zu verschleiern«, heißt es im Aufruf für die Aktion. In Berlin und anderen Städten in ganz Europa werden Aktivist*innen am Jahrestag gelbe Rosen verteilen, um an das schwere Kriegsverbrechen zu erinnern.

Timeline der Ereignisse rund um den Chemiewaffen-Angriff vom 21. August 2013

Der Aktivist und Regisseur Saeed al Batal („Still recording“, 2018) war selbst Augenzeuge des Verbrechens, heute lebt er in Leipzig:
»Wir hätten uns niemals vorstellen können, dass das Regime Giftgas gegen uns einsetzt – und vor allem, dass danach die Welt einfach nichts unternimmt! Das hat vielen Menschen in den oppositionell kontrollierten Gebieten vermittelt, dass die ganze Welt gegen uns ist. Den dschihadistischen Gruppen hat das massiv Auftrieb gegeben.«

»Damals wurden die Menschen in Ghouta wie Ungeziefer vergast, heute überlässt das Assad-Regime sie einfach der Corona-Seuche«, sagt der aus Ost-Ghouta stammende Omar und referiert damit auf eine Aussage von Diktator Assad, der Protestierende als ,Erreger‘ und ,Bakterien‘ bezeichnet hatte. »In Ost-Ghouta sterben aktuell täglich Menschen an Covid-19, aber wer die Todesursache öffentlich nennt, muss Verhaftung und Folter fürchten.«
Der an der Universität Heidelberg promovierte Sprachwissenschaftler stand zum Zeitpunkt der Angriffe in ständigem Kontakt mit seiner Familie vor Ort. Noch immer leben enge Familienangehörige in dem inzwischen wieder unter Kontrolle des Assad-Regimes stehenden Gebiet.

Der Aktivist und Regisseur Saeed al Batal im Interview über den Giftgas-Angriff auf Ghouta 2013. Das Gespräch entstand im Rahmen der Ausstellung „Repression, Revolution, Transformation“.

Auf Anfrage können wir gerne Kontakt zu in Deutschland lebenden Zeugen und Überlebenden des Angriffs herstellen.

Folgen des Angriffs: Die Tatwaffe sichergestellt – und das nur teilweise

Obwohl der damalige US-Präsident Barack Obama den Einsatz von Chemiewaffen als »rote Linie« bezeichnet hatte, musste das syrische Assad-Regime im Nachgang des Angriffs lediglich seine Giftgas-Bestände abgeben. Inspektoren der Vereinten Nationen konnten vor Ort einen Einsatz von Sarin belegen, verfügten jedoch über kein Mandat, die Verantwortlichen zu nennen (Timeline der Ereignisse). Auch wenn eine erdrückende Zahl von Indizien für die Täterschaft des Assad-Regimes spricht, wurden die Verantwortlichen des schwersten Einsatzes von Chemiewaffen des 21. Jahrhunderts bis heute nicht offiziell ermittelt. Das Kriegsverbrechen ist dementsprechend bis heute straflos geblieben.

Um Einsätze von Chemiewaffen in Syrien ranken sich zahlreiche Verschwörungstheorien, die unter anderem durch russische Desinformationskampagnen verbreitet wurden. Den populärsten Verschwörungsmythen zufolge sei der Sarin-Einsatz in Ghouta eine „False-Flag-Operation“ gewesen, um eine US-Intervention in Syrien zu provozieren oder zu rechtfertigen – die jedoch nicht stattgefunden hat.

Aktion syrischer Aktivist*innen auf Facebook…

Täterschaft des Assad-Regimes durch Indizien mehr als wahrscheinlich

Bei weiteren Angriffen mit Chemiewaffen in Syrien konnten die Vereinten Nationen und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) die Täterschaft des Assad-Regimes belegen: Am 4. April 2017 setze das Assad Regime in Khan Sheikhoun Sarin ein, das den gleichen chemischen Fingerabdruck hat wie das 2013 in Ghouta verwendete Giftgas. In Khan Sheikhoun starben mindestens 86 Menschen an dem chemischen Kampfstoff.

Zuletzt veröffentlichte die OPCW im April 2020 einen Bericht, der zwei weitere Sarin-Angriffe durch Assads Luftwaffe bestätigt, die im März 2017 auf die Stadt Ltamenah in der Provinz Idlib verübt wurden. Insgesamt untersuchten die UN 37 Giftgasangriffe, für 32 der Angriffe machen die UN das Assad-Regime verantwortlich. Eine Studie des Global Policy Instituts dokumentiert über 300 Giftgasangriffe des Regimes. Sie zeigt, dass neben Sarin auch Chlorgas als Kampfstoff systematisch eingesetzt wird.

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