Statt vor Gericht zu landen, sitzen unsere Monster am Verhandlungstisch

Ein neuer Bericht von Amnesty International dokumentiert die Zustände im berüchtigten syrischen Foltergefängnis Saidnaya. Bis zu 13.000 Menschen könnten dort zwischen 2011 und 2015 exekutiert worden sein. Ein Kommentar von Karam Nachar.

Ich war sechs oder sieben, als ich meine erste Gefängnisgeschichte hörte. Sie handelte von einem Mann, der in den späten siebziger Jahren in Aleppo festgenommen und in Einzelhaft gesteckt wurde. Sein Kopf fixierte man unter einem Wasserhahn, aus dem jede Minute ein Tropfen floß. Der Geschichte nach wurde der Mann nach ein paar Tagen verrückt, und dennoch musste er weitere 20 Jahre im Gefängnis bleiben. Als man ihn endlich entließ, kaufte der Mann einen Meißel und ging zur nächsten Statue von Hafez Al-Assad und begann am Sockel zu hämmern. Die Leute vom Geheimdienst kamen schnell und nahmen ihn fest – niemand hörte jemals wieder von ihm.

Alle Syrer kennen solche Geschichten aus ihrer Kindheit. Unsere Eltern konfrontierten uns schon im jungen Alter mit grauenvollen Details damit wir verstanden, dass wir nicht wie die Menschen waren, die wir in amerikanischen Filmen oder japanischen Manga-Märchen sahen: Wir Syrer lebten unter der Herrschaft von Monstern: Kranken Gestalten, die Freude daran fanden, wehrlosen Körpern Schmerzen zuzufügen – ähnlich wie Ramsey Bolton in Games of Thrones. Wir hatten nur zwei Optionen: dem Monster zu gehorchen oder irgendwie abzuhauen.

Liebe Freunde auf der ganzen Welt, seid dankbar dafür, dass ihr den letzten Bericht von Amnesty International über die Massenhinrichtungen in den syrischen Gefängnissen „schockierend“, „entsetzlich“ und „empörend“ finden konntet. Denn für uns Syrer war er nicht mehr als eine Bestätigung seitens Weißer für etwas, das wir schon immer wussten, mit dem wir lebten, von dem wir Alpträume hatten, gegen das wir revoltierten und von dem wir vernichtet wurden.

Wenn ihr dafür jetzt Dankbarkeit empfindet, berücksichtigt bitte Folgendes: Es liegen heute stärkere Beweise gegen das syrische Regime und seine industrielle Form der Folter und Vernichtung vor als einst bei den Nürnberger Prozessen. Doch weil wir marginalisierte, dunkelhäutige und kolonisierte Syrer sind, stehen unsere mörderischen Monster nicht vor Gericht, nein, unsere Monster werden an den Verhandlungstisch geladen.

Karim Nachar ist ein syrischer Autor und Journalist. Er ist Mitbetreiber des Onlinemagazins al-Jumhuriya.

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