Mutaz verlässt Aleppo am 19. Dezember. Während er und hunderte weitere Aleppiner durch die apokalyptische Ruinenlandschaft gen Westen fahren, wirft der junge Aktivist einen vielleicht letzten Blick auf die Stadt, in der er geboren wurde und aufgewachsen ist. „Wir waren voller Angst“, erzählt er. „Wir fühlten uns erniedrigt. Alles begann damit, dass wir unsere Rechte einforderten. Und es endete damit, dass wir mit solcher Gewalt vertrieben wurden.“
Bevor die grünen Busse, mit denen die Menschen aus der Stadt gebracht werden, wieder ins Rollen kommen, harrten sie bei Minusgraden in den Trümmern aus. Zwei Kinder sterben in der Kälte, ein Mann stirbt aufgrund einer entzündeten Knieverletzung an einer Sepsis, weil es keine Antibiotika gibt. Es ist ein perfides Hin und Her: Mal sabotieren radikale Aufständische die sogenannte „Evakuierung“, dann wieder die vom Iran kontrollierten Milizen. Die in Aleppo verbliebenen ZivilistInnen sind Faustpfand bewaffneter Gruppen.
Während der heftigsten Phase der Belagerung, sagt Mutaz, habe er sich wie ein Gefangener gefühlt. „Wegen der heftigen Bombardements gab es keine Bewegungsfreiheit mehr und wir lebten von einer Mahlzeit am Tag. Immer wieder griffen Russland und das Regime systematisch zivile Institutionen an. Menschen, die zu fliehen versuchten, wurden bombardiert.“
Kaum Hoffnung auf Aufklärung der Verbrechen
Es gibt unzählige Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen während der „Evakuierung“ Aleppos. Exekutionen, Misshandlungen, Raub. Hunderte Menschen werden vermisst. Jene Männern, die nun wieder im Einflussbereich des Assad-Regimes leben, droht jederzeit in die Armee eingezogen und wie Zehntausende andere an der Front verheizt zu werden.
„Doch niemand wird nun jemals aufklären können, was wirklich während dieser Tage geschah“, fürchtet Mutaz. „Ich habe keine Hoffnung auf Aufklärung und Gerechtigkeit, wer sollte das nun noch recherchieren?“
Die Busse brachten Mutaz in die von Aufständischen kontrollierte Provinz Idlib. Doch die stärkste Miliz ist dort die dschihadistische Nusra-Front, die sich heute Jabhat Fatah al-Sham nennt. „In Idlib gibt es viele Zivilisten, aber eher wenig Zivilgesellschaft. Die Freiräume sind rar“, sagt Mutaz.
Raus aus dem Einflussgebiet der Dschihadisten
Deswegen ist Mutaz von Idlib nach Atareb gegangen, eine Stadt im Westen der Provinz Aleppo. Dort wehrte sich die Zivilgesellschaft mehrmals erfolgreich gegen den Einfluss radikaler Gruppen. Hier hofft Mutaz weiter seinen Beitrag für eine bessere Zukunft leisten zu können: „Seit Beginn der Revolution geht es mir um den Aufbau von so etwas wie einer Zivilgesellschaft. In einer Diktatur gibt es die nicht. Nur wenn die Gesellschaft aufsteht und eine Rolle einnimmt, wie sie sie in demokratischen Staaten hat, kann sie ihren Beitrag dazu leisten, Rechte zu erkämpfen und zu verteidigen, Probleme zu lösen.“
So sei es auch in Aleppo gewesen: „Erst gab es keine Zivilgesellschaft, keine Initiative. Doch all das haben wir aufgebaut. Unter Bomben und extremen Druck. Es gab unendlich viele Herausforderungen und Hindernisse, und dennoch haben wir soviel geschafft!“
Urban Gardening zum Überleben
2013 gründete Mutaz mit seinen Mitstreitern ein Jugendzentrum, um Kindern und Jugendlichen eine Perspektive abseits der Waffen und der Zerstörung zu bieten. 2015 wird das Gebäude bei einem Luftangriff zerstört. Sie wollten ihr Zentrum wiederaufbauen, doch dazu kam es nie. Zu unbarmherzig spitzte sich die Lage zu. Trotz der dauernden Bombardements und der Belagerung machten sie weiter mit ihren Aufklärungskampagnen: Um die Folgen der vom Assad-Regime durchgesetzten Hungerblockade zu mildern bringen sie ZivilistInnen bei, wie auf ihren Dächern und in den wegen des Mangels an Heizmaterials längst gerodeten Parks Nutzpflanzen ziehen können.
Mutaz hat davon Ahnung: Vor der Revolution hat er Agrarwissenschaft studiert – und Politikwissenschaft. Bereits Mitte März 2011 organisierte er mit anderen zusammen erste kleinere Proteste gegen das Regime. Mutaz wird festgenommen, durchläuft das brutale Prozedere der syrischen Geheimdienste und gelangt wieder auf freien Fuß.
Kultur des Feudalismus
Langsam kommen mehr und mehr Menschen zu den Demonstrationen. Syrien war ein Polizeistaat, sagt Mutaz. „Es war die Revolution, die die Barriere der Angst Stück für Stück gebrochen hat. Die Angst, die durch die Geheimdienste gesät wurde.“ Nach und nach hätten sie ein Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Land aufgebaut. „Das hatten viele vorher nicht. Was wir aber hatten, war eine regelrechte Kultur des Feudalismus, ausgeübt durch das Regime. Auch diese versuchten wir zu zerschlagen.“
Doch im Sommer 2012 überschlugen sich die Ereignisse. Die Repression nimmt immer weiter zu. „Unglaublich viele zivile Aktivisten wurden festgenommen. Sehr viele Studenten, sehr viele Aktivisten der Lokalen Koordinationskomitees. Medizinstudenten wurden verhaftet und zu Tode gefoltert, weil sie verletzte Demonstranten behandelt hatten.“
Mehr und mehr ließ das Regime die Gewalt eskalieren. „Immer mehr wurden umgebracht. Und langsam kroch die Angst zurück in die Köpfe. Die Stadt aber wollte eigentlich friedlich bleiben“, betont Mutaz. Im Sommer 2012 eroberten dann Einheiten der Freien Syrischen Armee FSA Teile der Stadt, drangen aus dem Umland ein. Damit begann der Bombenterror der Luftwaffe.
Bombenterror und religiöse Radikalisierung
„Natürlich hat all die Gewalt und die ausbleibende Reaktion der internationalen Gemeinschaft zu einer Stärkung der Radikalen geführt“, meint Mutaz. „Seht doch nur, wie schnell es bei euch im Westen zu einem extremen Rechtsruck und dem Erstarken der Reaktionären kam. Was glaubt Ihr denn, was dann in einem Land wie Syrien passiert? Wir hatten hier wegen des Staatsterrors fast eine halbe Million Tote. Natürlich hat auch das in Syrien ebenfalls den Reaktionären geholfen!“
Keine Macht der Welt, glaubt Mutaz, kann Syrien eine Lösung mit Assad aufzwängen. „Dann droht hier ein Chaos aus Terroranschlägen, wie nach 2003 im Irak. Und diese Radikalen werden auch weiterhin nicht an den Grenzen haltmachen, sondern noch verstärkt international agieren.“
Koloniale Perspektive des Westens
Trotzdem fehle es international am Willen, Gerechtigkeit herzustellen und Demokratie in Syrien zu ermöglichen. „Der Westen hat den Nahen Osten aus einer kolonialen Perspektive gesehen und dazu beigetragen, dass sich die Despoten so lange halten konnten. Für die Extremisten haben sie sich nicht interessiert, solange sie nicht auch im Westen Unheil angerichtet haben“, sagt Mutaz. „Ich fürchte eine dunkle Zukunft. Mehr als eine halbe Million Tote und weit über 100.000 Verschwundene. Die Angst aller Gruppen ist unermesslich. Auch derer, die loyal zum Assad-Regime stehen. Keiner kann sich hier eine Lösung vorstellen, so lange dieses Regime existiert.“
Ende Februar werden die militante Opposition, das Regime und die internationalen Mächte wieder über Syriens Zukunft verhandeln. Menschen wie Mutaz, die fünf Jahre lang für ein besseres Syrien stritten, haben bei diesen Konsultationen keine Stimme.
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