Schulanfang diese Woche in Homs mit viel Propaganda. Eigentlich sollte Bildung an oberster Stelle stehen – viele Familien können sich einen Schulbesuch ihrer Kinder aber nicht leisten.

Schule oder der Ernst des Lebens

Nicht nur in Deutschland kehren die Kinder nach den großen Ferien derzeit nach und nach zurück in die Schule. Auch in Syrien beginnt das neue Schuljahr – aber nicht für alle. Im ganzen Land herrscht zwar Schulpflicht, die Realität ist aber eine andere. Das hat zwei Gründe.

Schulanfang diese Woche in Homs mit viel Propaganda. Eigentlich sollte Bildung an oberster Stelle stehen – viele Familien können sich einen Schulbesuch ihrer Kinder aber nicht leisten.

In Syrien ist der September ein belastender und gefürchteter Monat in einem sowieso von Krieg und Krise geprägtem Jahr. Denn: Im September müssen Vorräte für den Winter, beispielsweise für Heizöl angelegt werden. Eine enorme finanzielle Belastung in nicht nur wirtschaftlich schwierigsten Zeiten. Gleichzeitig geht jetzt auch die Schulzeit (wieder) los. Für viele Familien ist es aber aufgrund der wirtschaftlichen Situation schwierig bis unmöglich ihre Kinder in die Schule zu schicken. Bildung muss man sich leisten können, denn allein die Ausstattung der Kinder mit Schulbüchern, Schreibwaren und Schulkleidung ist für viele Familien kaum zu stemmen. Dazu kommen noch die Kosten für den Transport zur Schule und zurück.

Fast ein Fünftel der Kinder geht in Syrien derzeit nicht zur Schule. Die Hälfte von ihnen hat sogar noch nie eine Schule von innen gesehen, weil sie gar nicht erst eingeschult wurde – ihr fehlt damit sogar eine rudimentäre Grundbildung. Dafür gibt es zwei primäre Faktoren: Viele Familien sind auf ihre Kinder als Arbeitskräfte angewiesen, um finanziell überleben zu können. Das ist in allen Regionen Syriens ähnlich, weil sich die wirtschaftlichen Bedingungen der Menschen in- und außerhalb der Assad-Gebiete ähneln: Hohe Preise und niedrige Löhne, instabiler Wert der Währung, fehlendes festes Einkommen für einen großen Teil der Bevölkerung und fehlende Unterstützung bei Bildungskosten.

Schule? Welche Schule?

Zum anderen können viele Eltern ihre Kinder nicht in die Schule schicken, weil keine mehr vorhanden ist. Im Nordwesten Syriens gibt es beispielsweise nur noch 196 Schulen für eine Region, in der knapp vier Millionen Menschen leben. Viele Binnenvertriebene haben in Idlib Zuflucht gesucht und damit den Bedarf an Bildungseinrichtungen eigentlich erhöht. Gleichzeitig wurden aber Schulen gezielt vom Assad-Regime und Russland weggebombt.

Aber nicht nur in Idlib, im ganzen Land und allen Regionen bleiben Kinder der Schule fern. Der Anteil an Kindern, die nicht am Unterricht teilnehmen ist in Raqqa mit 35 Prozent am höchsten, gefolgt von Hassaka (30 %), Idlib (28 %), Aleppo (26 %) und Deir-ez-Zor (25 %). Das liegt auch daran, dass das Schulsystem so marode ist, dass es nicht alle Kinder im Schulalter aufnehmen und behalten kann. Im Durchschnitt kommt im ganzen Land ein funktionsfähiges Klassenzimmer auf 54 Kinder im Schulalter. Am dramatischsten ist es in Idlib: Laut Unicef liegt das Verhältnis von Kindern pro intaktem Klassenraum bei 1:178. Aber auch in der Stadt Damaskus sieht es kaum besser aus – hier kommen 101 Kinder auf ein Klassenzimmer.

Schule im Schichtbetrieb

Deshalb arbeiten mehr als ein Drittel der Schulen im Schichtbetrieb, d. h. Kinder werden am Tag nacheinander beschult. In Idlib wird mit Dreifach- und Vierfachschichten versucht der Überbelegung entgegenzuwirken. Den unterschiedlichen Lernbedürfnisse von Kindern im Vorschulalter, Jugendlichen, Binnenvertriebenen, Rückkehrenden oder Kindern mit besonderen Bedürfnissen kann so kaum Rechnung getragen werden. Zudem sind die Lernangebote meist nicht flexibel genug, um auch Kinder zu erreichen, die arbeiten, um ihren Haushalt zu unterstützen.

Schulpflicht gibt es nur formal

Dabei galt Syrien bis zum Ausbruch der Revolution und dem anschließenden Krieg noch als Bildungs-Vorzeigeland in der arabischen Region. Denn schon damals galt eine Schulpflicht für alle Kinder zwischen sechs und 15 Jahren. Die Einschulungsrate lag damals noch bei 98 Prozent (Mädchen) bzw. 99 Prozent (Jungen). Mehr als zwei Drittel der Kinder besuchten dann weiterführende Schulen. Davon ist heute nicht mehr viel übrig, obwohl die Schulpflicht nach wie vor besteht. Sie wird aber nicht durchgesetzt.

In Idlib, das unter der Kontrolle der islamistischen Miliz Hai’at Tahrir al-Sham (HTS) steht, haben alle Kinder unabhängig ihres Geschlechts und Herkunft nicht nur Schulpflicht, sondern auch das Recht auf Bildung. Die Kapazitäten sind aber zu gering, um das durchsetzen können. Das gleiche zeigt sich im Nordosten oder den türkisch kontrollierten Gebieten. Bildung gilt hier als Pflicht, wird aber nicht aktiv umgesetzt. Kinderarbeit ist extrem verbreitet, auch weil es keine Institution gibt, die Kinder in die Schule zwingt. Die Zukunft der Kinder steht damit langfristig auf der Kippe. Den Eltern ist das bewusst, nur: Sie haben meist keine andere Wahl.


Lesen Sie hier, wie unsere Partner*innen trotz aller Widrigkeiten immer wieder Wege finden Kindern und Jugendlichen eine Grundausbildung zu bieten:

Die Zukunft der Kinder liegt im Keller