Mit einem Plakat suchen Angehörige in Damaskus im Mai 2025 nach einem vermissten Studenten, der genau 13 Jahre zuvor im Sadnaya-Gefängnis verschwand.

Selektive Justiz: Ein Freispruch für alle außer Assad?

Mit einer Kommission für Übergangsjustiz will Syriens Regierung Verantwortung zeigen – doch eingeschränkte Zuständigkeiten, fehlende Unabhängigkeit und eine selektive Fokussierung auf Assad-Verbrechen sorgen für scharfe Kritik. Ist echte Gerechtigkeit so überhaupt möglich?

Mit einem Plakat suchen Angehörige in Damaskus im Mai 2025 nach einem vermissten Studenten, der genau 13 Jahre zuvor im Sadnaya-Gefängnis verschwand.

Die syrische Übergangsregierung hat eine Nationale Kommission für Übergangsjustiz ins Leben gerufen. Sie soll die schweren Menschenrechtsverbrechen des Assad-Regimes untersuchen und juristisch aufarbeiten. Für viele Opfer und ihre Angehörigen ist das ein erster Hoffnungsschimmer. Doch zivilgesellschaftliche Organisationen üben deutliche Kritik am Mandat, an der Zusammensetzung und am Verfahren der neuen Kommission.

„Die Gründung einer Kommission zur Übergangsjustiz ist ein notwendiger und überfälliger Schritt. Aber der jetzt vorgelegte Entwurf lässt zentrale Prinzipien vermissen: Unabhängigkeit, Einbindung der Opfer und umfassende Aufarbeitung aller Verbrechen.“

Suleiman Issa, Human Rights Guardians

Einseitige Aufarbeitung: Wer zählt als Opfer?

Tatsächlich soll laut offiziellem Dekret die Kommission lediglich die „schweren Verstöße des früheren Regimes“ untersuchen. Verbrechen anderer Kriegsparteien, darunter nichtstaatliche Milizen und bewaffnete Gruppen, werden nicht explizit erwähnt. Suleiman Issa kritisiert diesen Ausschluss als selektive Justiz: „Die Übergangsjustiz hilft dem Land und den Menschen, ihre Wunden zu überwinden und voranzukommen. Aber wenn nur ein Teil der Verbrechen geahndet wird, fühlt sich der andere Teil der Opfer verraten.“

Zudem wurde die Kommission durch den Präsidenten per Dekret eingesetzt – entgegen der verfassungsrechtlichen Vorgabe, die eine Einrichtung durch ein parlamentarisches Gremium vorsieht. Dies wirft Fragen nach der Unabhängigkeit der Kommission auf. „Wir hätten uns gewünscht, dass die Kommission vom erwarteten Legislativrat gebildet wird“, so Suleiman Issa. „Basierend auf früheren Erfahrungen in Marokko, Uganda oder Peru zeigt sich: Wenn solche Gremien durch die Exekutive gebildet werden, fehlt es ihnen oft an Unabhängigkeit, Legitimität und Ermittlungskompetenz.“

Neben der strukturellen Kritik ist es vor allem das Fehlen einer opferzentrierten Herangehensweise, das für Empörung sorgt. Weder Opferverbände noch zivilgesellschaftliche Organisationen wurden im Vorfeld angehört oder einbezogen. „Die Gründung dieser Kommission hätte sich auf den Ansatz und die Sichtweise der Opfer stützen müssen. Sie zu ignorieren, führt zum Verlust ihrer Rechte,“ warnt auch Mustafa Hamoud, ebenfalls Partner von Adopt a Revolution. Artikel 49 der verfassungsrechtlichen Erklärung verlangt einen „effektiven, konsultativen und opferzentrierten Mechanismus“ – doch davon ist im Erlass nichts zu finden.

Zwischen Hoffnung und Enttäuschung

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen weisen zudem auf die Versäumnisse der Vergangenheit hin. Die Kommission kommt spät – vielleicht zu spät. „Mit der Zeit verschwinden Beweise – viele wurden bereits zu Beginn der Befreiung Syriens zerstört. Verantwortliche sind geflohen, es kam zu Selbstjustiz, die gesellschaftliche Spaltung vertiefte sich. All das zeigt: Übergangsjustiz erlaubt keinen Aufschub“, mahnt Mustafa Al-Hamoud.

Gleichzeitig betonen einige Aktivist*innen, dass die Regierung durchaus Gespräche mit der Zivilgesellschaft führt und nicht völlig verschlossen sei. „Meiner Meinung nach hört die Regierung allen Initiativen zu und reagiert“, so Suleiman Issa. So seien etwa Komitees zu regionaler Gewalt oder zivilem Frieden auf Anregung von Aktivist*innen gegründet worden.

Doch das reicht vielen nicht aus. In einem offenen Brief haben Opferangehörige die Übergangsregierung um Präsidenten Ahmad Al-Sharaa aufgefordert, ihre Sache nicht zu einem politischen Thema zu machen. Sie verlangen:

  • eine gerechte und umfassende Aufarbeitung aller Verbrechen,
  • die Beteiligung der Opfer in der Kommission,
  • institutionelle Unabhängigkeit.

Denn: „Menschenrechte sind nicht das Privileg bestimmter Gruppen – sie sind Rechte für alle ohne Ausnahme.“

Was gilt als schwerer Verstoß? Ein Streit um Definition und Geltung

Und schließlich bleibt die Frage nach dem Kern des Mandats. Was bedeutet „schwere Verstöße“, wie es im Erlass formuliert wurde? Wer entscheidet darüber, welche schwerwiegend sind? Es wäre möglich gewesen, den Begriff an internationales Recht anzulehnen – etwa durch den Verweis auf schwere Verstöße gegen das Völkerrecht. Damit wären auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch nichtstaatliche Akteure eingeschlossen gewesen. Stattdessen bleibt der Fokus eng gefasst:

„Artikel 49 der Verfassungserklärung stellt fest, dass vom Assad-Regime begangene Verbrechen nicht verjähren, ohne jedoch die Verbrechen anderer Parteien einzubeziehen. Dieser Ansatz führt zu einer selektiven Justiz, die das Vertrauen großer Gruppen von Opfern schwächen und die Chancen auf nationale Aussöhnung untergraben würde.“

Mustafa Al-Hamoud

Ob die Nationale Kommission für Übergangsjustiz dieser Herausforderung gerecht wird, bleibt offen. Die Forderungen nach echter Beteiligung und Unabhängigkeit sind klar formuliert. Jetzt liegt es an der Regierung, ihnen zu entsprechen – und den Opfern endlich Gerechtigkeit zu verschaffen.