Im Al-Hol-Camp inhaftierte Frauen.

“Sie nehmen nur Frauen oder Kinder zurück. Das bringt nichts!”

Vom berüchtigten Al-Hol-Camp in Nordsyrien geht eine weltweite Terrorgefahr aus, sagen die Mitglieder einer Hilfsorganisation, die vor Ort gearbeitet haben. Denn in ihm sitzen auch sehr radikale ausländische IS-Kämpfer fest, für die niemand die Verantwortung übernehmen will.

Im Al-Hol-Camp inhaftierte Frauen.

Vor über einer Woche verübte der sogenannte Islamische Staat einen schweren Terroranschlag in Moskau. Dabei verloren mehr als 130 Menschen ihr Leben. Hat euch die erneute Brutalität und Präsenz des IS außerhalb von arabischen Staaten überrascht?

Das hat uns ehrlich gesagt nicht im Geringsten überrascht. Wir können uns vorstellen, dass IS-Kämpfer jederzeit und überall aktiv sind. In unserer Arbeit im Al-Hol-Camp erfuhren wir, dass viele der gefährlichsten IS-Kämpfer aus dem Ausland stammen.

Al-Hol liegt im Gebiet der kurdischen Selbstverwaltung im Norden Syriens. Warum können die Aktivitäten in und aus dem Camp nicht von den Behörden unterbunden werden?

Die kurdische Selbstverwaltung schützt die Welt so gut sie kann, indem sie die Terroristen auf ihrem Boden zurückhält. Obwohl viele aus dem Ausland stammen und nicht in ihre Zuständigkeit fallen. Gleichzeitig hat die Selbstverwaltung mit der türkischen Invasion zu kämpfen. Die Türkei hat bereits Camps und Gefängnisse angegriffen, in denen IS-Mitglieder festgehalten werden. Dadurch konnten einige entkommen und untertauchen. Dann ist es natürlich möglich, dass sie in ihre Länder zurückkehren und dort Terroranschläge vorbereiten.

Als eine von wenigen Hilfsorganisationen habt ihr eine Zeit lang im Al-Hol-Camp gearbeitet. Was war eure Mission?

Wir haben im syrischen Sektor mit Frauen und Kindern von IS-Kämpfern gearbeitet, die getrennt von ihren Ehemännern und Vätern untergebracht sind. Wir waren in der Regel nicht allein als Organisation vor Ort, sondern im Verbund. Unser Hauptziel war es, gegen die radikal-islamistische Narrative anzugehen und den Frauen mithilfe von Deradikalisierungsmethoden dabei zu helfen, einen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Doch dieser Weg ist äußerst lang und beschwerlich, insbesondere, wenn man in Al-Hol gefangen ist, einem Ort, der unter der Herrschaft des IS steht.

Konntet ihr trotzdem etwas verändern?

Die Frauen haben uns zu Anfang nicht vertraut. Wir mussten uns verschleiern, um überhaupt Kontakt aufnehmen zu können. Nachdem wir zuerst über Gesundheit und Hygiene gesprochen hatten, tasteten wir uns an kritische Themen wie Frieden heran. Das Vertrauen wuchs. Im Schutze ihrer Zelte zeigten uns die Frauen dann auch ihre Gesichter. Das zeigt: Veränderung in Al-Hol ist möglich, aber es braucht Ressourcen und vor allem den Willen. Niemand will die Verantwortung übernehmen, um die weltweite Gefahr zu bannen, die von Al-Hol ausgeht. Wir haben unser Leben riskiert, um im Camp zu arbeiten. 

Wie äußerte sich dieses Risiko?

Die Situation war für uns von Anfang an gefährlich. Unser Arbeitszelt wurde zwar von Sicherheitspersonal bewacht, aber auf den Wegen durch das Camp waren wir auf uns allein gestellt. Das Areal ist riesig und wir fuhren mit Autos ohne Kennzeichnung der Organisationen. Es war zu riskant, zu Fuß zu gehen. Es sei denn, wir waren vollständig verschleiert, um nicht aufzufallen. Wir haben in dem Camp viel Gewalt gesehen. Die Angst davor, angegriffen zu werden, war real. Wir sahen Zelte, die angezündet wurden, obwohl sich darin noch Leute befanden und tote Menschen, die in Abwasserrinnen geworfen wurden.

Ihr habt aufgrund der Bedrohungslage eure Arbeit schlussendlich einstellen müssen.

Es gab verschiedene Vorfälle, die uns dazu zwangen, unsere Arbeit zu beenden. Beispielsweise verfuhren sich die Mitarbeiterinnen einer anderen Organisation einmal und landeten in dem Sektor, in dem ausländische IS-Mitglieder untergebracht sind. Sie wurden angegriffen und konnten gerade so entkommen. Kurz vor unserem letzten Besuch wurde dann ein Sicherheitsbeamter von einer Insassin ermordet. Da war uns klar: Wir müssen hier raus, bevor es jemanden von uns trifft.

In Al-Hol sitzen ausländische IS-Mitglieder ein, auch aus Deutschland. Doch die Bundesrepublik und andere Staaten weigern sich beharrlich, ihre Staatsangehörigen, insbesondere IS-Kämpfer, zurückzuholen. Großbritannien entzog sogar einer Frau im Camp die Staatsbürgerschaft. Welche Auswirkungen hat diese internationale Zurückhaltung?

Wir haben gesehen, dass wenn überhaupt eine Rückführung stattfindet, Länder Rosinen picken. Sie nehmen nur Frauen oder Kinder zurück. Das bringt nichts. Denn solange Al-Hol in dieser Zusammensetzung besteht, ist es de facto IS-Gebiet. Es ist seine Brutstätte. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, dass, obwohl die Männer separat untergebracht waren, Frauen immer wieder schwanger wurden. Es stellte sich heraus, dass Jungs beim IS erschreckenderweise mit 13 Jahren als mündig und erwachsen gelten. Den Rest können Sie sich denken. Deshalb werden die Jungs heute in diesem Alter von den Frauen getrennt. Nur wenn alle Länder die Verantwortung für ihre eigenen Staatsbürger*innen übernehmen, könnten wir den IS in Al-Hol unter Kontrolle bringen. In dem ausländischen Sektor sind sehr radikale IS-Kämpfer untergebracht. Ohne sie hätten wir eine reale Chance, uns um die syrischen IS-Mitglieder zu kümmern, für die wir verantwortlich sind. 

Die Anzahl an deutschen IS-Kämpfern in Al-Hol liegt im mittleren zweistelligen Bereich. Macht es überhaupt einen Unterschied, wenn diese Personen aus dem Camp geholt werden?

Auch ein Dutzend Rückführungen würde einen Unterschied machen. Wir hoffen, dass Länder wie Deutschland eine Vorreiterrolle einnehmen. Sie haben die juristischen Ressourcen, mit ihren IS-Kämpfern zu verfahren und können Programme für Deradikalisierung und Reintegration schaffen. Der aktive Umgang mit der Situation ist langfristig für alle auf der Welt sicherer. Obwohl vielen in Al-Hol die Menschlichkeit abhandengekommen zu sein scheint, sind sie dennoch genau das: Menschen, die auch dementsprechend behandelt werden müssen.