Unsere Partnerin Huda vom Frauenzentrum Idlib bei einer früheren Verteilaktion in einem Flüchtlingscamp in Idlib.

Mehr als Nothilfe: „Wir geben Menschen ihre Würde zurück“

Seit Jahren leisten unsere Partnerinnen vom Frauenzentrum Idlib immer wieder Nothilfe für besonders vulnerable Menschen. Auch jetzt unterstützen sie insbesondere jene, die am wenigsten Schutz haben und am wenigsten Hilfe erreicht: Frauen und Kinder, Ältere, Menschen mit Behinderungen und Binnenvertriebene.

Unsere Partnerin Huda vom Frauenzentrum Idlib bei einer früheren Verteilaktion in einem Flüchtlingscamp in Idlib.

Im Interview berichtet unsere langjährige Partnerin und Leiterin des Women Support & Empowerment Center in Idlib-Stadt, Huda Khaity, über die aktuelle Situation vor Ort, was ihre konkreten Pläne sind und warum sie heute schon an morgen denkt.


Wir haben dich nach den Erdbeben lange nicht erreichen können, weil der Strom und das Internet in der ganzen Stadt ausgefallen waren aufgrund der zerstörten Infrastruktur. Wie ist die Lage jetzt in Idlib-Stadt?

Das Internet ist wieder da und auch das Stromproblem ist weitestgehend im Griff. Im Vergleich zu Städten wie Jenderis, die einfach komplett in sich zusammengestürzt sind, hält sich hier die sichtbare Zerstörung in Grenzen. Nur wenige Gebäude sind komplett kollabiert – und zwar die, die vorher von den Bombardierungen durch das Regime und Russland schon marode waren. Die Schäden sind trotzdem sehr groß. Beispielsweise sind in meiner Wohnung die Sanitäranlagen kaputt und die Rohre in den Wänden defekt. Von der Wohnung über mir läuft Abwasser aus der Toilette und den Wasserleitungen in meine Decke. In meinem Schlafzimmer ist ein großer Riss. Und das ist in sehr vielen Häusern und Wohnungen so.

Woher wisst ihr, dass die Häuser sicher sind und nicht einsturzgefährdet?

Grundsätzlich wissen wir das nicht. Ich habe einen Bauingenieur beauftragt, der sich den Riss angeschaut hat. Und einen Handwerker engagiert, der die Wasserrohre repariert hat. Ich musste selbst nach ihnen suchen und sie bezahlen. Das ist für die meisten hier aber gar nicht möglich, dabei brauchen wir diese Dienstleistungen gerade jetzt sehr dringend. Es gibt aber keine internationalen Hilfen für die Menschen, die dabei helfen festzustellen, ob Risse in der Wand gefährlich sind oder nicht. Und hier vor Ort gibt es keinen funktionierenden Staat, der sich darum kümmern würde.

Die Menschen leben also mit einem ungewissen Risiko in ihren Häusern weiter?

Ja und nein. Viele Menschen haben Angst vor weiteren Beben und sind allein deshalb nicht in ihren Häusern. Wir wissen ja nicht, ob die Häuser so auch nur einem kleineren Beben standhalten. In den Straßen gibt es ca. 400 Zelte, in denen jeweils mehrere Familien leben. Ich persönlich habe mich für die Rückkehr in meine Wohnung entschieden. Mich belastet ein enger Raum mit vielen Menschen psychisch zu sehr. Ich gehöre aber zu den Wenigen, die zurück sind.

Wie gehst du mit der Situation um?

Mir ging es in den ersten Wochen nach dem Beben sehr schlecht, mittlerweile habe ich mich gefangen und versuche so gut es geht, meinen Beitrag zu leisten. Das ist nicht die erste Krise, die wir durchleben. Ich habe bisher immer weitergemacht, wie viele andere auch. Aber alle diese Krisen hinterlassen natürlich ihre Spuren bei uns. Das hier war eine Naturkatastrophe – aber der hohe Preis, den wir Syrer*innen bezahlen, hat politische Gründe und ist menschengemacht.

Kannst du das genauer erläutern?

Zum einen ist es die Situation der Syrer*innen in der Türkei. Ich verstehe, dass die Türkei selbst überfordert ist mit den Folgen des Bebens. Wir Syrer*innen zahlen hier jetzt aber den höchsten Preis. Unserer Vertreibung hat die Weltgemeinschaft in den letzten Jahren untätig zugeschaut. Wir hatten und haben auch jetzt keinerlei Rückhalt und Unterstützung. Wir sind auf uns allein gestellt und Rassismus ausgesetzt. In der Türkei hilft uns niemand.

Und auch in Nordsyrien hat man uns sterben lassen, um dem Regime und Russland nicht vor den Kopf zu stoßen. Der größte Skandal ist für mich immer noch, dass nicht rechtzeitig Geräte und Maschinen zur Bergung der Menschen geliefert wurden und deswegen so viele mehr hier sterben mussten. Mich macht das vor allem als Vertriebene unendlich traurig. Die Mehrheit der Menschen in Jenderis stammte zum Beispiel aus Harasta, also aus Ost-Ghouta bei Damaskus, von dort wurde ich selbst vertrieben. Sie wurden schon einmal von Russland und dem Regime ausbombardiert, vertrieben und von der internationalen Gemeinschaft alleingelassen. Und jetzt sind sie unter den Trümmern gestorben, weil dieselbe internationale Gemeinschaft es nicht geschafft hat, ein paar Bagger über die Grenze zu fahren. 

Bis jetzt habe ich keine UN-Hilfen gesehen. Nicht hier in Idlib, nicht in Afrin oder Aleppo, wo ich zum Teil auch war, um Nothilfe zu leisten. Wir wissen, es kommen wohl LKW rein, aber wo diese hinfahren, was sie geladen haben und wo sie das genau verteilen, das weiß keiner. Niemand hat die UN hier Dinge verteilen sehen.

Das Frauenzentrum hat in den vergangenen Jahren immer wieder Nothilfe geleistet. Und ihr fangt auch jetzt wieder damit an. Was sind eure Pläne?

Wir haben bereits kleinere Verteilungen von „Würde-Paketen“ gemacht. So nennen wir die Hilfspakete, die wir gezielt für Frauen und ältere Menschen packen. Darin sind Binden, Unterwäsche, Babybedarf, Windeln für Kinder und für Ältere. Es klingt sehr einfach, aber Menstruationsprodukte und Windeln für ältere Menschen sind grundlegende Bedürfnisse, die kaum gedeckt werden. Sie kommen eigentlich noch vor dem Essen. Außerdem verteilen wir, wie schon vor den Erdbeben, Desinfektionsmittel. Die Cholera-Epidemie wütet ja weiter und durch die derzeitige Fluchtsituation ohne Zugriff auf Sanitäranlagen kann sich die Krankheit deutlich schneller verbreiten. Wir versuchen die Gefahr so gut es geht einzudämmen.

Ihr fokussiert euch in eurer Arbeit auf Frauen und ältere Menschen. Was sind die derzeit größten Herausforderungen für diese Personengruppen?

Generell ist für Frauen, für ältere Menschen und für Menschen mit Behinderung, die vom Erdbeben betroffen sind und jetzt in den Not-Camps leben, akut die Situation hinsichtlich der Sanitäranlagen am schlimmsten. Häufig gibt es gar keine oder nur wenige provisorische Toiletten und überhaupt keine Duschen. In den Zelten gibt es keine Privatsphäre, mehrere Familien teilen sich ein Zelt. Viele Frauen konnten sich seit dem Erdbeben nicht richtig waschen, können sich nur mühsam umziehen und wenn sie ihre Periode haben, haben sie keine Binden und keinen privaten Ort zum Wechseln der provisorischen Alternativen, die sie benutzen. Sie fühlen sich nicht nur ihres Zuhauses, sondern auch ihrer Würde beraubt.

Was habt ihr noch geplant?

Wir wollen uns in den kommenden Wochen vor allem auf Einzelfälle konzentrieren. Die Hilfe ist hier zum Teil sehr unkoordiniert: Viele Fälle von Menschen, die bei Verwandten oder Freund*innen untergekommen sind, sind nicht dokumentiert, weil die Situation einfach zu überwältigend ist. Menschen in den Not-Camps werden noch am meisten versorgt, weil sie leichter auffindbar sind. Ich kenne aber Fälle, wo eine Familie fünf andere bei sich zu Hause aufgenommen haben. Die brauchen auch dringend Unterstützung, aber das bekommt kaum jemand mit.

Aufgrund unserer langjährigen Arbeit hier in Idlib über das Frauenzentrum haben wir die Kontakte, um entsprechende Einzel- und Härtefälle zu erreichen und dort individuell angepasst Hilfe zu leisten. Außerdem wollen wir, wenn die Erdbeben endlich aufgehört haben und wir wirklich nicht mehr in, sondern nach der Katastrophe angekommen sind, psychische Unterstützung für Betroffene, als auch juristische Beihilfe organisieren. Denn auf die Betroffenen kommen viele rechtliche Fragen zu: Was ist mit meinem Besitz und meinem Haus? Gibt es eine Entschädigung und wenn ja, woher? Wo bekomme ich neue Papiere, einen neuen Ausweis her? Es müssen Erbschaftsfragen von Verstorbenen geklärt werden. Es gibt Kinder, die verwaist sind. Autos, die auf der Straße stehen und deren Besitzer*innen tot sind. Wer reguliert die Preise für Handwerker und Ingenieure und alle, die jetzt ein großes Geschäft machen können? Alle diese Fragen werden uns noch sehr lange beschäftigen und da müssen wir schon heute dran denken.

Psychologische Hilfe und rechtliche Beratung bietet ihr ja schon lange im Frauenzentrum an, auch vor den Erdbeben. Wie geht die Arbeit da weiter? Schafft ihr neben der Nothilfe noch die „normale“ Arbeit?

Die Arbeit des Zentrums läuft jetzt schon regulär weiter – die Frauen wollen etwas zu tun haben, alle wollen möglichst einen Alltag, eine Aufgabe haben, um sich von der Katastrophe abzulenken.

Wir arbeiten außerdem weiter in den Flüchtlingscamps Al-Kanaes und Tafr Takharim, in denen wir schon vor den Erdbeben beispielsweise Kurse für Frauen und Kinder organisiert haben. Dort sind sie nicht direkt vom Erdbeben betroffen, die Gesamtsituation wirkt sich aber natürlich trotzdem auch hier sehr negativ aus. Schon vorher kam wenig Hilfe an – jetzt konzentriert sich alles auf schnelles Handeln und schnelle Hilfe für die Erdbebenopfer. Hinten runter fallen die Binnenvertriebenen in den regulären Camps, in denen die Menschen schon vor der Katastrophe unter extrem prekären Bedingungen lebten. Bei ihnen kommt überhaupt keine Hilfe mehr an. Wir versuchen deswegen dort weiter nachhaltig zu arbeiten. Diese Woche haben wir beispielsweise warme Kleidung für die Kinder dorthin gebracht.


Unterstützen Sie unsere Partner*innen, die Nothilfe in Nordsyrien leisten, wo sonst kaum Hilfe ankommt, mit einer Spende!