Die Ruinen der einzigen Schule im Dorf Kuran bei Kobanê/Ayn al-Arab, die von türkischen Kampfjets zerstört wurde.

Türkischer Angriffskrieg auf Nordost-Syrien: Vom Westen nichts Neues

Der völkerrechtswidrige türkische Krieg gegen den Nordosten Syriens läuft bereits seit einigen Monaten und wurde konsequent von der hiesigen Politik ignoriert. Jetzt hat er eine neue Stufe erreicht. Die Reaktionen: Kaum wahrnehmbar. Was passiert und was ist zu erwarten? Ein kompakter Überblick.

Die Ruinen der einzigen Schule im Dorf Kuran bei Kobanê/Ayn al-Arab, die von türkischen Kampfjets zerstört wurde.

Überraschend kamen die seit dem 19. November flächendeckenden Bombardierungen von Kobanê/Ayn al-Arab bis Derik/al-Malikiya entlang der Grenze in Nordost-Syrien eigentlich nicht. Es war lediglich eine Frage der Zeit, wann Erdogan den nächsten Schritt seiner Militäroffensive gehen würde, die er am 23. Mai angekündigt hatte. Entsprechend hatten unsere Partner*innen im Nordosten bereits die Zeit genutzt, um Nothilfestrukturen zu etablieren.

Denn, während sich die Weltöffentlichkeit in den vergangenen Monaten redlich bemühte von dem längst gestarteten hybriden Krieg keine Notiz zu nehmen, waren die Menschen vor Ort bereits täglichen Drohnenangriffen ausgesetzt.

„Wir leben in einem kalten Krieg, in dem durchschnittlich 20 Personen pro Tag sterben. […] Dabei ist es egal, ob wir die derzeitige Situation Krieg nennen oder nicht: de facto leben wir in kriegsähnlichen Zuständen und Menschen sterben!“

So fasste unser Partner Diyar vom PÊL Civil Waves Zentrum Anfang Juni die prekäre Lebenssituation zusammen.

Der Anlass

Die ersten Bomben schlugen im Nordosten Syriens knapp eine Woche nach einem Bombenanschlag in Istanbul ein, bei dem sechs Menschen getötet und 81 weitere verletzt wurden. Obwohl bislang nicht geklärt werden konnte, wer hinter dem Anschlag steckt, hatte die Türkei die Verantwortlichen bereits binnen Stunden ausgemacht und beschuldigt bis heute die Kurdenmiliz YPG (syrischer Ableger der PKK) als Urheberin. Auszuschließen ist das per se natürlich nicht, Beweise bleibt die Türkei bis heute jedoch schuldig. Trotzdem verkündete Innenminister Süleyman Soylu bereits kurz nach der Explosion: „Der Befehl kam aus Kobanê“. Auch wenn die Türkei sie als solche verkauft: Um gesicherte Erkenntnisse handelt es sich hier nicht. Tatsächlich hat sich die PKK bisher nie zurückgehalten, sich zu ihren Anschlägen zu bekennen – die Verantwortung für diesen Bombenanschlag in Istanbul weist sie jedoch entschieden von sich.

Vergeltung ist keine Verteidigung

Wer auch immer hinter dem Anschlag steckt: Die türkische Regierung nutzt sie als „Legitimation“ ihrer Luftangriffe und tarnt diese als Notwehr, indem sie sich auf das in der UN-Charta festgeschriebene Recht auf Selbstverteidigung beruft. Aber: Vergeltung ist keine Verteidigung! Bereits die beiden vorangegangenen türkischen Militäroffensiven 2018 und 2019 waren völkerrechtswidrig Auch der terroristische Anschlag in Istanbul löst kein  Selbstverteidigungsrechtes aus – ganz egal, wer Drahtzieher des Anschlags ist.

Trotzdem kommt die Explosion in Istanbul für die türkische Regierung, wer auch immer dahinterstecken mag, politisch nicht ungelegen: Im Frühjahr stehen die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Erdogan muss liefern und von den innenpolitischen Problemen, wie der Inflation und der desaströsen wirtschaftlichen Lage, in seinem Land ablenken. Mit seinem Angriffskrieg kann er sich zum einen als Macher und Verteidiger einer (fiktiven) Bedrohung präsentieren, zum anderen bombt er sich den Weg frei, um möglichst viele schutzsuchende Syrer*innen in die „Sicherheitszone“ abschieben zu können. Die Stimmung gegenüber den knapp vier Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei ist auch wegen politischer Stimmungsmache gesellschaftlich gekippt.  

Die aktuelle Situation

Seit über einer Woche dauern nun die Bombenangriffe an.

„Die Situation ist sehr angespannt, wir hören permanent Sirenen und Bomben. Nach Kobanê/Ayn al-Arab ist Derik/al-Malikiya bis jetzt am meisten betroffen.“

Das berichtet unsere Partnerin Najelah Temo vom Frauenzentrum Sawiska in Qamishli.

„Alle hier haben Angst, dass es zu einem Einmarsch von Bodentruppen kommt. Die Menschen fliehen bereits in Scharen aus Kobanê/Ayn al-Arab, Tell Tamer/Girê Xurma und Abu Rasin/Zarkan. Die meisten kommen aus den Dörfern und suchen in den Städten Zuflucht, weil die Dörfer stärker bombardiert werden. Erdogan will das Gebiet zwischen der Grenze und den Städten möglichst leerfegen.“

Was es heißt unter türkischer Besatzung zu leben, erklärt der syrische Menschenrechtsaktivist Bassam al-Ahmad in diesem Interview.
Was es mit der „sicheren“ Zone auf sich hat und welche konkreten Folgen das hätte, haben wir HIER zusammengefasst.

In diesem Gebiet plant Erdogan ganz offen eine „sichere Zone“ zu schaffen. Das hat er bereits mehrmals und ohne jegliche Skrupel betont. Zuletzt behauptete der türkische Präsident am internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen: „Mit der Sicherheitszone, die wir auf der anderen Seite unserer Grenze errichten, schützen wir auch die Rechte von Millionen Frauen und Kindern.“ Zeitgleich wurden Schulen und zivile Einrichtungen im Nordosten Syriens unter Beschuss genommen. Dazu hat er angekündigt, die Luftangriffe weiter fortzuführen und auch Bodentruppen einzusetzen, „wenn es nötig wird“. Wann das sein wird, ist ungewiss. Die Angst davor ist aber real.

Keine Reaktionen

Politische Reaktionen fallen sehr übersichtlich aus – die Bundesregierung hält sich weitestgehend zurück. Lediglich Bundesinnenministerin Nancy Faeser äußerte sich im Zuge eines Treffens mit dem türkischen Innenminister Soylu. Sie sprach der Türkei angesichts des Anschlags in Istanbul ihre Anteilnahme aus und mahnte alle Seiten zur Deeskalation. „Reaktionen müssen das Völkerrecht waren“ – mehr „Kritik“ ließ Faeser nicht verlauten.

Generell herrscht in der Bundesregierung Schweigen zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, bis dato hat sich nicht ein NATO-Staat offiziell geäußert und die Militäroffensive der Partnerin kritisiert oder Konsequenzen auch nur in den Raum gestellt. In Nordost-Syrien ist die Wut und Empörung gegenüber den USA am größten:

„Auf der einen Seite sehen sie den türkischen Angriffen tatenlos zu und intervenieren nicht, was einer offiziellen Erlaubnis gleichkommt. Gleichzeitig bietet sie der kurdischen Selbstverwaltung (SDF) logistische Unterstützung an. Wie passt das zusammen?“

Najelah Temo von Sawiska

Trotzdem ruht die Hoffnung nach wie vor auf den westlichen Staaten, wie unser Partner Umran vom Welat Magazin erzählt:

“Unsere Hoffnung ist, dass die internationale Gemeinschaft einschreitet und die Invasion der Türkei nicht zulässt. Auch Erdogan reagiert auf Druck. Das haben wir gesehen, als immer mehr Berichte von Menschenrechtsverletzungen in den türkisch besetzten Gebieten veröffentlicht wurden. Die Türkei könnte so ein großes Gebiet nicht wirklich ohne weitere Menschenrechtsverletzungen kontrollieren.“


Trotz der andauernden Angriffe machen sich unsere Partner*innen im Nordosten Syriens für eine demokratische und gerechte Zukunft stark und leisten in der aktuellen Situation Nothilfe, wo sie nur können. Insbesondere in diesen Zeiten ist es wichtiger denn je, ihnen jetzt zur Seite zu stehen.