Ob Groß oder Klein, Mann oder Frau, mit oder ohne Behinderung: Bei Dhuai Alhumam kommen alle miteinander in den Dialog. Das fördert Inklusion und wirkt gesellschaftlichen Konflikten entgegen

„Wir sind die erste Anlaufstelle für Menschen mit Behinderungen“

In Syrien hatte laut Humanitarian Needs Assessment Programme (HNAP) bereits 2020 jede vierte Person über 12 Jahren eine körperliche Behinderung. Bei den Kindern zählte UNICEF 2018 allein 750.000 mit kriegsbedingter Behinderung. Eine Lobby haben sie nicht, stattdessen erleben sie Diskriminierung und Ausgrenzung. Unsere Partner*innen von Dhuai Alhumam wollen das ändern. Mit ihrem Dialogprojekt reden sie nicht nur über Inklusion und Gleichstellung, sondern bewirken diese auch – Stück für Stück.

Ob Groß oder Klein, Mann oder Frau, mit oder ohne Behinderung: Bei Dhuai Alhumam kommen alle miteinander in den Dialog. Das fördert Inklusion und wirkt gesellschaftlichen Konflikten entgegen
*Dhuai Alhumam heißt „Menschen mit Errungenschaften“ und ist bewusst als Gegenpol zu der abgelehnten Bezeichnung „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ gewählt

Jihad ist ein junger Mann, der in der Kleinstadt Azaz im Nordwesten Syriens lebt. Mit gerade mal 17 Jahren nahm er 2012 an einer friedlichen Demonstration gegen das Assad-Regime teil, das auf die Demonstrierenden schießen ließ. Jihad wurde dabei schwer verletzt und ist seitdem halbseitig gelähmt. Gestoppt hat ihn das nicht, ganz im Gegenteil: Seine Lähmung und die damit einhergehenden, alltäglichen Diskriminierungen sind für ihn Ansporn. Er gründete mit weiteren Aktivist*innen 2019 die Organisation Dhuai Alhumam*. Gemeinsam mit Verbündeten treiben sie seitdem die gesellschaftliche, ökonomische und politische Inklusion von Menschen mit Behinderungen voran.


In der syrischen Stadt Azaz leben derzeit ca. 280.000 Einwohner*innen, mindestens 1.800 von ihnen mit einer (kriegsbedingten) Behinderung. Wahrscheinlich sind es mehr – insbesondere durch die verheerenden Erdbeben im Februar 2023 dürfte die Zahl nach oben geschnellt sein – belastbare Zahlen gibt es nicht. In ihrem Alltag haben sie oft nicht nur mit Stereotypen und Diskriminierung zu kämpfen, sondern werden aufgrund mangelnder Barrierefreiheit systematisch aus dem Alltag ausgeschlossen und der Zugang zu Bildung oder Arbeit faktisch verwehrt. Auch Jihad kennt das aus eigener Erfahrung.

Als er sich auf eine freie Stelle bei einem der lokalen Räte – das Äquivalent einer Lokalverwaltung – bewarb, bekam er eine Absage. Und zwar aufgrund seiner Behinderung, ist er sich sicher: „Mein Profil passte perfekt, ich war sogar fast schon überqualifiziert. Ich wollte die Stelle sehr gerne haben, weil es bisher keine Menschen mit Behinderungen in einem lokalen Rat gibt. Auch in politischen Organisationen sind wir nicht vertreten. Das scheint aber genau so gewollt, denn auf meine Bewerbung erhielt ich die Nachricht, dass derzeit gar keine Angestellten gebraucht würden – dabei war die Stelle öffentlich ausgeschrieben! Es war eine faule Ausrede, meine Behinderung ist ihnen zu unbequem, weil sie sich sonst überlegen müssten, wie ich beispielsweise das Büro erreichen kann.“

Fehlende Barrierefreiheit: Überall unüberwindbare Hürden

Denn in Azaz, wie in gesamt Syrien, haben öffentliche Gebäude in der Regel keine Fahrstühle oder Rampen. Auch Restaurants, Cafés oder öffentliche Toiletten sind nicht barrierefrei. Selbst an den Gehwegen fehlen Absenkungen, damit Menschen mit Rollstuhl oder Gehhilfen diese benutzen können. „Es gibt hier nicht mal improvisierte Hilfen. Für viele Menschen bedeutet es einen enormen Planungsaufwand nur mal eben vor die Tür zu gehen.“

Für Jihad bedeutete das auch fast das Ende seines Studiums, denn die Vorlesungen im Master Betriebswirtschaftslehre fanden alle im dritten Stock der Uni statt. Ohne die Unterstützung von Freund*innen, die ihn die Treppen hoch- und runtertrugen, hätte er sein Studium nicht beenden können. „Nur wer ein soziales Netzwerk oder Geld hat, kommt irgendwie durch. Viele haben das aber nicht, beispielsweise die vielen Binnenvertriebenen. Ihnen bleibt der Zugang zu Schule, Uni, Arbeitsplatz oder Geschäften allein schon räumlich verwehrt.“

„Wir werden nicht nur vergessen, sondern bewusst ignoriert“

Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten Barrierefreiheit herzustellen, wie die Aktivist*innen von Dhuai Alhumam bereits selbst bewiesen haben. Vor zwei Jahren haben sie in Eigenregie und selbstfinanziert an den Märkten in Azaz Metallrampen angebracht, damit diese auch für Menschen mit Gehbehinderungen zugänglich sind. „Der lokale Rat hat unsere Installationen wieder entfernen lassen und ein generelles Verbot für Rampen verhängt. Vorgeblich, weil Händler diese sonst für ihre Autos zweckentfremden, um direkt auf den Markt zu fahren. Anstatt den Händlern das zu untersagen oder Kontrollen einzuführen, verwehren uns die Behörden den Zugang zum Markt. Es ist desaströs, wie aktiv wir ausgegrenzt werden.“

Deshalb setzen die Aktivist*innen jetzt umso mehr auf Dialog. „Natürlich ist uns bewusst, dass Rampen hier und da allein nicht ausreichen. Es braucht echte Veränderungen, große Veränderungen – und das fängt erstmal in den Köpfen an. Wir müssen die Zivilgesellschaft sensibilisieren. Denn wenn wir langfristig politisch etwas ändern wollen, müssen wir diese einbinden und auf unsere Seite bekommen.“

Gesellschaftlicher Wandel und Zusammenhalt durch Dialog

Vorurteile sind weit verbreitet und vom Regime gewollt
Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen kommen in Syrien nicht von ungefähr, sondern werden vom Assad-Regime befeuert und medial verbreitet. Denn je stärker die Gesellschaft zusammenhält, umso gefährlicher kann sie dem Regime werden. Daher setzt dieses bewusst auf Spaltung. Insbesondere Kriegsversehrte werden als ausländische Eindringlinge, Söldner oder Verräter*innen gebrandmarkt. Bspw. werden in der in Syrien überaus beliebten Fernsehserie Bab al-Hara Menschen mit Behinderungen als Verräter dargestellt. In der Bevölkerung bleibt dadurch der Eindruck haften, dass diese gefährlich, aber auch schwach, nutz- und wertlos seien.

Die Aktivist*innen von Dhuai Alhumam mobilisieren deshalb Menschen mit Behinderungen und ermutigen diese sich zivilgesellschaftlich zu engagieren und sich für ihre Rechte einzusetzen. Dafür haben sie ein eigenes barrierefreies Zentrum aufgebaut, das für jede*n zugänglich ist. „In Workshops schulen wir Interessierte darin, sich im Kontakt mit Menschen ohne Behinderung zu behaupten, eigene Sichtweisen und Positionen klar zu kommunizieren und die eigene Perspektive zu transportieren. Wir geben ihnen quasi Werkzeuge an die Hand, um Überzeugungsarbeit leisten und ein Bewusstsein schaffen zu können. Ein Schlüssel für den Erfolg liegt ja auch darin, wie ich meinem Gegenüber meine Geschichte erzähle.“

Die Kommunikationstrainings und Dialog-Workshops sind bei Menschen mit Behinderungen sehr gefragt. Denn sie steigern zum einen das eigene Selbstbewusstsein, weil die Teilnehmenden die Erfahrung machen, dass sie nicht alleine sind im Kampf um die eigenen Rechte. Zum anderen ist es für sie eine Möglichkeit der eigenen Isolation zu entfliehen und mit Gleichgesinnten zusammen zu kommen. Gleichgesinnte sind nicht automatisch Menschen mit Behinderungen, sondern alle Menschen, die für Gleichberechtigung und Inklusion einstehen. Denn auch diese gibt es bei Dhuai Alhuman – die Organisation fungiert bereits selbst als Begegnungsstätte zwischen Menschen mit und ohne Behinderung.

Durch die Begegnung und den Dialog der unterschiedlichen Gruppen wird gegenseitiges Verständnis gefördert und so Konfliktursachen abgebaut. Denn der gesellschaftliche Ausschluss von Gruppen birgt ein hohes Konfliktpotenzial und führt zu tiefen Rissen in der Gesellschaft. Durch die Begegnung und den Austausch der Menschen mit und ohne Behinderungen wird so nicht nur Inklusion vorangetrieben, sondern auch der Zusammenhalt der Gesellschaft aufgebaut und gestärkt und tiefgreifenden Konflikten vorgebeugt.

Kommunikation auf Augenhöhe geht auch im Rollstuhl sitzend

Um den eigenen Anliegen Gehör zu verschaffen, reichen Dialog-Workshops allein aber nicht aus. Deshalb bringen die Aktivist*innen von Dhuai Alhumam ihre Trainees mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft als auch der Politik zusammen. „Eines unserer Ziele ist es, den Druck auf lokale NGOs und politische Akteur*innen aufzubauen und stetig zu erhöhen, damit Inklusion nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben, sondern auch umgesetzt wird. Dazu gehört aber auch, dass Menschen mit Behinderungen selbst in den Organisationen und Räten vertreten und präsent sind.“

Der Weg ist mühsam, die Arbeit zahlt sich aber aus. „Bevor wir mit unserer Arbeit gestartet sind, war Inklusion kein Thema. Sie wurde als Nebensächlichkeit abgetan, die durch die humanitäre Hilfe abgedeckt werden sollte. Mittlerweile gibt es einen Diskurs und auch ein paar konkrete Veränderungen. So konnte beispielsweise nach vielen zähen Diskussionen mit dem lokalen Rat eine Person mit Behinderung dort als Volunteer anfangen. Auch bei den lokalen NGO ist ein Bewusstseinswandel spürbar: Jihad schätzt, dass viele der Organisationen in ihrer Arbeit inzwischen eine Quote von 20-30 Prozent für Menschen mit Behinderungen einplanen. „Unsere Stimmen haben Gehör gefunden – das ist ein unglaublicher Erfolg. Wir werden nicht nur wahr-, sondern auch ernst genommen. Aber diese kleinen Erfolge reichen natürlich noch nicht aus, wir geben uns nicht mit Häppchen zufrieden. Wir bleiben weiter dran und stetig im Dialog mit allen Ebenen, damit wir langfristig eine wahrhaftige Inklusion zu erreichen.“

„Wir sind die Stimme der behinderten Menschen in Azaz geworden“

Menschen mit Behinderungen stehen in Syrien am Rande der Gesellschaft – besonders dramatisch ist die Situation für Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Lesen Sie hier mehr dazu:

Das ist insbesondere jetzt, nach den verheerenden Erdbeben, umso wichtiger geworden. Denn die Gefahr, dass Menschen mit Behinderungen jetzt – unter dem Deckmantel der Ausnahmesituation – wieder unsichtbar gemacht und ihre Bedürfnisse nicht beachtet werden, ist groß. Dabei hat das Erdbeben die Zahl der Menschen mit Behinderung hier weiter steigen lassen. Umso wichtiger ist es jetzt trotz der schwierigen humanitären Lage auch die Dialogarbeit kontinuierlich weiterzuführen
Mittlerweile bilden sich auch in anderen Städten, wie in Idlib-Stadt oder al-Bab kleinere Gruppen und Organisationen, die mit Menschen mit Behinderung arbeiten und mit denen wir uns vernetzen. „Wir sehen uns nicht als Konkurrent*innen, sondern versuchen mit einer Stimme zu sprechen, um insgesamt mehr Gehör zu finden und überregional Einfluss auszuüben.“ Dafür bleiben auch sie miteinander im Dialog.

Adopt a Revolutions Förderfonds „about:syria“ unterstützt zivilgesellschaftliche Initiativen und Organisationen dabei, Dialog, Diskussion und Austausch in ihrer Projektarbeit zu etablieren. In drei bisherigen Ausschreibungen konnten sich registrierte und nicht-registrierte Initiativen aus dem Norden Syriens sowie der deutschen Diaspora auf Förderung eines Dialogprojektes bewerben. Mittlerweile werden acht Projekte gefördert. 


Humanitarian Needs Assessment Programme (HNAP) I Syria SUMMER 2020 REPORT SERIES DISABILITY OVERVIEW

UNICEF Report 2018